Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit
Autoren: Alex Capus
Vom Netzwerk:
totenähnlicher Gleichgültigkeit, auf ihren Wunden saßen schwarze Fliegen. Sie schütteten ihre Körbe an einer Stelle aus, an der der Regen den Muschelkies weggespült hatte, dann kehrten sie zurück zum Strand.
    Gouverneur Schnee sah, dass seine Gäste das sahen. «Verbrecherinnen», sagte er und legte bedauernd die Stirn in Falten. «Rechtskräftig verurteilte Diebinnen, Brandstifterinnen, Schmugglerinnen. Scheußliche Sache. Man würde sich wünschen, es wäre nicht nötig.» Er führte die Herren die Freitreppe hinauf und bat sie mit einer Armbewegung, die eher wie eine Geste der Entschuldigung als der Einladung wirkte, ins Haus. Und während seine Gäste vom wohltuenden Dämmerlicht verschluckt wurden, erklärte er ihnen, dass die Kettenstrafe leider unverzichtbar sei, weil die Eingeborenen sich als unempfindlich erwiesen hätten gegen alle zivilisierten Formen der Bestrafung. Geldbußen seien unnütz, da die meisten Schwarzen komplett mittellos seien. Einsperren aber könne man sie nicht, da sie das Gefängnis nicht als Strafe, sondern als kostenlose Unterkunft empfänden. Was die Nilpferdpeitsche betreffe, so habe er sie bei den Frauen aus humanitären Gründen abgeschafft.
    Und den Strang befehle er nur, wenn das Gesetz keine andere Möglichkeit zulasse. So bleibe in den meisten Fällen nur die Kette, um Achtung vor dem Gesetz zu erzwingen, wozu er als oberster Richter der Kolonie verpflichtet sei. Furchtbar anzuschauen, eine schändliche Reminiszenz an längst überwunden geglaubte Zeiten der Sklaverei, ein Skandal für jeden ideal gesinnten Menschen – aber leider die einzig wirksame Strafe. Unter der Tür blieb er stehen und wandte sich nach den sieben Frauen um, die wieder am Strand angelangt waren und mit bloßen Händen ihre Körbe füllten.
    «Das ist das Einzige, was ich den Schwarzen wirklich übelnehme», sagte er mit unerwarteter Leidenschaft, während er seinen goldenen Helm einem Diener reichte, «dass sie mich zwingen, Dinge zu tun, die ich selbst für böse halte, und dass ich als Mensch nicht die Wahl habe zwischen dem Guten und dem Bösen. Täglich stehe ich vor dem Zwang zur bösen Tat, solange ich den Untergang vermeiden will, meinen eigenen und jenen der Kolonie, die mir der Kaiser anvertraut hat, und mit jeder weiteren bösen Tat verschmelze ich ein bisschen mehr mit der Rolle, die mir zugedacht ist. Das, meine Herren, ist das Schicksal des kolonialen Menschen: sich zeitlebens immer wieder für die Selbstverachtung und gegen den Tod entscheiden zu müssen.»
     

 
    3
    Kaisers Geburtstag
     
     
     
    Anton Rüter, Hermann Wendt und Rudolf Teilmann – blieben siebzehn Tage in Daressalam. Am frühen Morgen des achtzehnten Tages marschierten die zwölf Askari und die zwei rotgesichtigen Korporale, die sie auf der Landungsbrücke empfangen hatten, vor dem Hotel Kaiserhof auf. Dann fuhr eine vierspännige, geschlossene Kutsche vor, der die Gouverneurin und der Gouverneur entstiegen. Sie schritten Arm in Arm die Treppe zur Veranda hinauf, wo Rüter, Wendt und Teilmann reisefertig warteten. Das Gepäck hatten die Hoteldiener schon zum Bahnhof gebracht. Ada Schnee belebte die Veranda mit Veilchenduft und ihrer gewohnten Munterkeit, erkundigte sich bei den Papenburgern nach der Qualität der Nachtruhe, des Frühstücks, des Personals sowie der Hotelbetten und äußerte sich zuversichtlich über das Wetter, das in den nächsten Tagen wohl heiß, aber nicht allzu feucht zu werden verspreche. Dann mahnte sie zu raschem Aufbruch, da die Lokomotive unter Dampf stehe und die Bauteile der Götzen fest vertäut in den Güterwagen lägen. Zwar sei nicht zu befürchten, dass der Zug ohne seine einzigen Fahrgäste losfahre, aber je früher die Reise, desto angenehmer der Tag.
    Obwohl die Sonne noch tief über dem Ozean stand, strahlte sie schon mit alles versengender Hitze wie eine offene Feuerluke. Die Pferde hatten sich auf der kurzen Strecke von der Gouverneursresidenz zum Hotel nass geschwitzt, und der Schaum stand ihnen in dicken Flocken an den Nüstern. Der Gouverneur wischte sich, als er hinter seinen Gästen in die Kutsche stieg, mit dem Taschentuch über Nacken und Gesicht. Die Gouverneurin vergewisserte sich reihum, dass alle bequem saßen, und als die Kutsche anfuhr, steckte sie den Kopf aus dem Fenster, musterte munter lächelnd den vorbeiziehenden Palmenhain und gab damit zu verstehen, dass sie diesmal aus freien Stücken auf gepflegte Konversation verzichte und die Herren, da sie ja
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher