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Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja

Titel: Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
Autoren: Sofja Tolstaja Ursula Keller Alfred Frank Ursula Keller
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hingegen das Ideal, die Poesie der Liebe, die Zärtlichkeit und erst zuletzt die geschlechtliche Leidenschaft... Ich schrieb mit großer Begeisterung, Die Kreutzersonate von Lew Nikolajewitsch
vor Augen, der ich meine Erzählung nachgezeichnet habe.»
    Der komplizierten Erzählstruktur der Kreutzersonate , in der der Bericht der Ehetragödie durch den Protagonisten Posdnyschew in die Rahmenhandlung einer Zugfahrt eingebettet ist, setzt Sofja Tolstaja die scheinbar objektiv erzählte Geschichte einer Ehe entgegen.«Von einer Liebe, die rein und ideal sein muß, fast so wie ein Gebet», träumt die junge Anna vor ihrer Heirat mit dem fast doppelt so alten Fürsten Prosorski. Doch schon in der ersten Zeit der Ehe folgt die Ernüchterung. Die«Prosa des Lebens»desillusioniert die junge Ehefrau. Immer mehr leidet Anna unter dem Gefühl, lediglich als Objekt der körperlichen Befriedigung ihres Ehemannes wahrgenommen zu werden - dies ist das Leitmotiv der literarischen Entgegnung der Gattin Tolstois.«Sollte denn nur darin unsere weibliche Berufung bestehen, vom körperlichen Dienst für den Säugling zum körperlichen Dienst für den Mann überzugehen? Und das abwechselnd - immerfort! Wo bleibt denn mein Leben? Wo bleibe ich? Ich, die einmal nach Höherem gestrebt hat, dem Dienst an Gott und den Idealen?»läßt Sofja Tolstaja die Protagonistin in ihrer Erzählung sagen. Es könnten ihre eigenen Worte sein.

    Tolstaja schreibt ihre Erzählung allerdings nicht nur vor dem Hintergrund der Kreutzersonate , sondern auch vor dem ihrer Biographie. Die Analogien sind offenbar: Die Erzählung ist voll von ihrem Schmerz über das fehlende Verständnis, die Kränkungen, ewigen Konflikte und Versöhnungen im Zusammenleben mit Tolstoi. Die Heirat eines jungen Mädchens mit einem viel älteren Mann, die ganz und gar nicht romantische Erfahrung der Hochzeitsnacht, die Ernüchterung in den Flitterwochen, die leibeigene einstige Geliebte des Ehemannes, der die junge Ehefrau zu begegnen fürchtet, das Desinteresse des Ehemannes an der Geburt des ersten Kindes und später am Familienleben insgesamt, die ständige Suche nach Anerkennung durch den Ehemann - zahlreiche Elemente der Erzählung finden sich auch in Tolstajas eigenem Lebensweg, wie ihre Tagebücher und auch die in dieser Ausgabe enthaltene Autobiographie bezeugen. Mit gutem Grund hat Elisabeth Cheauré den Text daher einen«autobiographischen Schlüsselroman»genannt.
    Während die Frau in Tolstois Kreutzersonate auf den Körper reduziert, ja sogar namenlos bleibt, zeichnet Tolstaja ihre Protagonistin nicht nur als ideale Ehefrau und Mutter, sondern auch
als Menschen mit künstlerischen Interessen und Begabungen. Die Tragödie der Ehe in Tolstajas Erzählung liegt nicht in der moralischen Niedrigkeit der Frau, sondern im Unvermögen des Mannes, die Frau als ganzen Menschen wahrzunehmen:«Mich braucht er nur als Gegenstand», klagt Tolstajas Protagonistin. Fast im Gleichklang heißt es nach fast vierzig Jahren Ehe im Tagebuch der Autorin:«Für ihn ist die Welt nur das, was seinen Genius, sein Schaffen umgibt. Er nimmt von seiner Umgebung nur das, was seinem Talent, seiner Arbeit dienen kann. Alles andere weist er ab. Von mir zum Beispiel nimmt er meine Arbeit des Abschreibens, meine Sorge um sein leibliches Wohl, meinen Körper... Mein ganzes geistiges Leben ist für ihn ohne Interesse, und er hat keine Verwendung dafür - denn er hat sich niemals die Mühe gemacht, es zu verstehen... Es tut mir schrecklich weh - und dennoch verehrt die Welt einen solchen Mann.»

    Sofja Tolstajas Erzählung ist nur eine von zahlreichen literarischen Antworten auf Tolstois Kreutzersonate . Unter Überschriften wie Ihre Kreutzersonate. Aus dem Tagebuch der Frau Posdnyschew (Kiew, 1896) oder Die Pfennig-Sonate. Eine Tollstoifelei (Leipzig, 1890) setzten sich die Zeitgenossen
der europäischen Literatur teils sehr polemisch mit den als rückständig empfundenen Ansichten Tolstois auseinander. Im vielstimmigen Chor der Erwiderungen nimmt die Entgegnung Sofja Tolstajas indes einen besonderen Platz ein: Sie war die einzige Frau, die sich zu Wort meldete und in der damaligen Diskussion um die Geschlechterrollen ihren Standpunkt auf diese Weise verteidigte. Als die Verständigung mit ihrem Ehemann aufgrund der Unvereinbarkeit ihrer Ansichten immer schwieriger geworden war, trat sie mit ihm in einen literarischen Dialog. Den letzten Schritt auf dem Weg zur Emanzipation von ihrem Ehemann ging Sofja
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