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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Autoren: Peter Bieri
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Denn das hatte es tatsächlich gegeben: eine Weltmeisterschaft im Schleudern von Menschen. Nach der Rückkehr entdeckte ich, daß diese Sache Gerichte auf höchster Ebene beschäftigt hatte. In Frankreich hatte der Conseil d’Etat die Praxis des Zwergenwurfs verboten, und die Kommission für Menschenrechte der UNO hatte eine Klage gegen diese Entscheidung abgewiesen. Die Begründung hatte in beiden Fällen gelautet: Es gilt, die Würde des Menschen zu schützen.
    Das war auch meine spontane Reaktion auf dem Jahrmarkt gewesen: Das kann man mit einem Menschen nicht machen, es verstößt gegen seine Würde. »Ist das nicht toll?«, hatte der Mann neben mir bei einem besonders weiten Wurf ausgerufen. »Abstoßend«, hatte ich gesagt, »unerträglich!« »Aber warum denn«, hatte der Mann gereizt zurückgegeben, »niemand hat ihn dazu gezwungen, er bekommt Geld dafür, und es ist ein Riesenspaß!« »Es verletzt seine Würde !«, hatte ich wütend gesagt. Es war sonderbar gewesen, das feierliche Wort mitten in der johlenden Menge auszusprechen – ein bißchen, wie wenn man in den Fluten auftaucht und nach Luft schnappt. »Blödsinn«, hatte der Mann gesagt und sich zum Gehen gewandt, »was soll das denn sein: Würde ?«
    Zwergenwerfen ist wie Kugelstoßen oder Hammerwerfen: Es werden Körper geworfen, und es kommt darauf an, sie möglichst weit zu werfen. Es geht bei der Kugel und dem Hammer nur darum, daß sie Körper sind – Gegenstände, die eine Masse und ein Gewicht haben. So ist es auch beim geworfenen Zwerg: Er wird als bloßer Körper behandelt, als Ding . Im Moment des Werfens spielt alles andere keine Rolle: daß er ein Lebewesen ist, das sich auch selbständig bewegen kann; daß er ein Körper mit einem Erleben ist, für den es sich auf bestimmte Weise anfühlt, gepackt und geworfen zu werden; daß es dabei Gefühle in ihm gibt wie Ohnmacht, Abneigung oder Angst; daß er Wünsche hat wie den, es möge bald vorbei sein; daß er sich Gedanken macht über die johlende Menge, über die ganze Art der Veranstaltung und über sein Geschick als kleingewachsener Mensch. All das wird von den Werfern und vom Publikum ausgeblendet. Es interessiert nicht, wird gleichsam vergessen. Und nun hat man eine erste Erklärung für die Empörung, die man bei der Veranstaltung empfinden kann: Dem geworfenen Menschen wird die Würde genommen, weil außer Acht gelassen wird, daß er auch ein Subjekt ist. Dadurch wird er auf einen bloßen Gegenstand, auf ein Ding, reduziert, und in dieser Verdinglichung liegt der Verlust der Würde.
    Doch diese Erklärung genügt nicht. Wenn in einem Kino Feuer ausbricht, werden sich alle rücksichtslos einen Weg zum Ausgang bahnen. Sie werden andere Besucher zur Seite stoßen, umwerfen und treten. Sie werden mit ihnen dasselbe tun wie mit Gegenständen, die im Weg stehen: die Masse aus dem Weg räumen. Bei einer Massenpanik interessiert es den Einzelnen nicht mehr, daß die anderen auch erlebende Subjekte sind wie er. Das ist grausam, aber es ist nicht die Grausamkeit der gestohlenen Würde. Wenn dabei ein Großer einen Kleinen packt und wie einen Gegenstand wegschleudert, um Platz zu schaffen, ist es anders als beim Zwergenwurf auf dem Jahrmarkt. Inwiefern?
    Es gibt einen Unterschied in der Situation , dem ein Unterschied im Motiv entspricht. Das Motiv des Flüchtenden ist blanke Panik, die nur noch für den einen Gedanken Raum läßt: raus! Die Grausamkeit, die die anderen auf körperliche Hindernisse reduziert, ist nicht überlegt und planvoll, es ist die blinde Grausamkeit des Überlebenswillens. »Was sollte ich machen, es ging um mein Leben!«, wird der Große sagen, der zuerst einen Stuhl und dann einen Menschen gepackt und weggeschleudert hatte. Auf dem Jahrmarkt gibt es keine solche Entschuldigung. Dort werden Menschen zum bloßen Vergnügen geschleudert. Und wenn man es so ausdrückt, wird noch etwas anderes deutlich, was die Situation zu einer entwürdigenden Situation macht: Das Vergnügen der gaffenden und grölenden Zuschauer besteht darin , daß sie erleben, wie ein Mensch zum bloßen Ding gemacht wird. Sie vergessen keinen Moment, daß der geworfene Gegenstand ein Mensch ist, ein Lebewesen und Zentrum des Erlebens, wie sie es selbst auch sind. Vergäßen sie es, verflöge der ganze Spaß. Daß dem zum Vergnügen geschleuderten Menschen die Würde genommen wird, heißt also: Einer, von dem klar ist, daß er ein Subjekt ist, wird ohne Not und planvoll wie ein bloßes Objekt, ein Ding,
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