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Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)

Titel: Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Autoren: Peter Bieri
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behandelt. Das ist das eine, was die Richter, die die Veranstaltung verboten, verhindern wollten.
    Das andere, um das es ihnen ging, war, daß der geworfene Zwerg zu einem Spielzeug gemacht wird. Er ist ein Ding, mit dem man das Spiel des Werfens spielt und den Wettbewerb des Weitwurfs veranstaltet. Er wird als Mittel, als Instrument zu diesem Zweck betrachtet und benutzt. Während der Veranstaltung ist er nur ein Spielzeug, nur ein Mittel zum Zweck des Wettbewerbs und der Belustigung der Zuschauer. Er selbst als einer, der die Situation auch erlebt , kommt in dem Spiel gar nicht vor. Seine Perspektive, seine Sicht der Dinge, wird behandelt, als gäbe es sie gar nicht. Das geschieht auch dann, wenn Menschen als Schutzschilde oder wandelnde Bomben mißbraucht werden: Sie sind, wie der geworfene Zwerg, auf Körper reduziert, die zu einem Zweck eingesetzt werden. Zwar fehlt hier das Element des Spiels, des Spektakels und der Belustigung. Aber das Entscheidende ist beiden Fällen gemeinsam: Es werden Menschen ausschließlich als Mittel zu einem Zweck eingesetzt.
    Was die Richter vor Augen hatten, war ein Verständnis von Würde, das besagt: Menschen, auch wenn wir sie vielfältig als Mittel und Instrument betrachten und einsetzen, um einen Zweck zu erreichen, dürfen nicht auf diesen Zweck, diese Funktion reduziert werden, weder in der Betrachtung noch in der Behandlung. Auch wenn wir ein zweckgerichtetes, funktionales Verhältnis zu ihnen haben: Das darf nicht das einzige Verhältnis sein, das uns leitet. Es darf, soll ihre Würde gewahrt bleiben, nicht vergessen werden, daß es am Ende auch um die Betreffenden selbst geht. Es ist, dachten die Richter, genau das, was uns am Zwergenwurf verstört und empört: Indem hier ein Mensch als Wurfgeschoß und bloßes Spielzeug benutzt wird, so daß es in keiner Weise mehr um ihn selbst geht, wird ihm der kostbarste Status genommen, den es gibt: der Status als Selbstzweck.
    Auch Soldaten im Krieg stiehlt man die Würde in diesem Verständnis der Idee. Man schickt sie selbst dann an die Front, wenn man weiß, daß sie nichts weiter sein werden als Kanonenfutter – Kugelfänge, die laufen, fallen und sterben, damit die anderen aus den hinteren Reihen besser angreifen können. Jakob von Gunten in Robert Walsers gleichnamigem Roman stellt sich vor, wie es wäre, als Soldat unter Napoleon nach Rußland zu marschieren: »Ich wäre nur noch der kleine Bestandteil an der Maschine einer großen Unternehmung, kein Mensch mehr. Ich wüßte nichts mehr von Eltern, nichts von Verwandten, Liedern, persönlichen Qualen oder Hoffnungen, nichts vom heimatlichen Sinn und Zauber mehr. Die soldatische Zucht und Geduld würde mich zu einem festen, undurchdringlichen, fast ganz inhaltlosen Körper-Klumpen gemacht haben.«

Schlachthöfe
     
    Ein Besuch in einem Schlachthof ist verstörend. Warum? Es gibt Ströme von Blut und Exkrementen, es gibt Gestank und das angstvolle Geschrei der Tiere, das man lange nicht vergißt. Ein Schlachthof ist eine Fabrik des Todes. Tausende von Tieren werden hereingekarrt, um maschinell getötet und danach in der Fleischfabrik zu Fleischportionen verarbeitet zu werden. Jedes dieser Tiere ist, außer daß es ein lebendiger Organismus ist, auch ein Zentrum des Erlebens: Es spürt seine Bewegungen, empfindet Hunger, Durst und Schmerz, erlebt Lust und Angst. Sein Erleben ist einfacher als das unsere, aber es ist Erleben, und in diesem Sinne ist ein solches Tier ein Subjekt. Und nun wird es einfach getötet, weil wir es essen wollen. Schon dieser Gedanke ist beklemmend. »Tiere fressen einander doch auch auf!« Aber sie errichten keine Tötungsfabriken mit Tötungsmaschinen, die darauf ausgelegt sind, möglichst viele Tiere in möglichst kurzer Zeit hinzurichten. Die Tiere in möglichst großer Zahl in möglichst kurzer Zeit in verkaufbare Fleischportionen zu verwandeln.
    Was uns verstört, ist nicht allein das Töten. Es ist der Gedanke, daß die Tiere, die hier enden, von vornherein nur gezüchtet, gefüttert und gepflegt werden, um hier getötet und in eine Ware verwandelt zu werden. Es ist die Tatsache, daß diese Tiere, die oft zusammengepfercht in einer künstlichen Umgebung aufwachsen, keinen Moment ihres Lebens so behandelt werden, als ginge es auch um sie selbst – um ihr Leben und ihre Bedürfnisse. Sie sind von ihrer Zeugung bis zu ihrem Tod nie etwas anderes als Vorstufen zur eßbaren Ware im Supermarkt. Es sind gefütterte Dinge zum Zweck unserer Ernährung.
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