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Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I

Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I

Titel: Ein verhängnisvoller Auftrag Meisterspionin Mary Quinn I
Autoren: Y.S. Lee
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was? Aber wenn die Hitzewelle erst mal vorüber ist, wird es bestimmt gleich viel besser.«
    »Hoffentlich«, murmelte Mary. Ihre Aufmerksamkeit war auf das Haus gerichtet. Cheyne Walk Nummer 22 war eine seltsame Wahl für einen Geschäftsmann. Der Stadtteil Chelsea war berühmt   – vielleicht sogar berüchtigt   – für seine Bohemiens, vor allem für den Maler und Dichter Dante Gabriel Rossetti. Doch bei all seiner künstlerischen Anziehungskraft war Chelsea immer noch recht zwielichtig.
    Das Haus selbst sah aus wie ein großes Stück einer klassizistischen Hochzeitstorte. Da es so nah am Fluss lag   – buchstäblich auf der Rückseite des Uferkais   –, sah die weiß getünchte Fassade fleckig und grau aus,verschmutzt von Vogeldreck und Ruß. Die Stufen waren jedoch am Morgen geschrubbt worden und die Tür wurde unverzüglich von einem Diener geöffnet. Mrs Thorold erwarte sie bereits; würden sie bitte hinaufgehen?
    Sie brauchten einige Zeit, bis sich ihre Augen an das stickige Halbdunkel drinnen gewöhnt hatten. Die Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte, war von Ölgemälden gesäumt: ein Mädchen mit goldenem Haar, hübsch, wenn auch zu protzig gekleidet; ein blasser Junge im Matrosenanzug; eine stattliche Frau mittleren Alters mit einem fantastischen Rubinhalsband; und schließlich ein Mann mittleren Alters mit aufgedunsenem Gesicht und verquollenen Augen. Dieses Porträt sah Mary mit besonderer Aufmerksamkeit an.
    Der Salon lag nach vorne hin. Seine großen Fenster waren verhüllt von schweren Samtvorhängen, die jegliches Tageslicht und einen möglichen Luftzug verbannten. Trotzdem konnte man in der unbewegten und abgestandenen Luft einen Hauch vom Gestank des Flusses wahrnehmen, über dem ein künstlicher Rosenduft lag.
    »Die Damen Treleaven und Quinn, Madam.« Die Stimme des Lakaien war ziemlich näselnd.
    Anne Treleaven trat vor und neigte den Kopf. »Guten Tag, Mrs Thorold. Darf ich Ihnen Miss Mary Quinn vorstellen? Das ist die junge Dame, die ich in meinem letzten Brief erwähnt habe.«
    Die Stimme der Hausherrin war schlaff und etwaszittrig. »Ich hoffe, Sie entschuldigen, dass ich nicht aufstehe, meine Lieben. Ich fühle mich heute ziemlich schwach.«
    Mary neigte ebenfalls den Kopf, dann hob sie achtsam den Blick. Trotz der Hitze war Mrs Thorold fest in einen Spitzenschal gehüllt. Bleich sah ihr Gesicht unter der altmodischen Rüschenhaube hervor. Kurzsichtig blinzelte sie Mary und Anne Treleaven aus ihren blauen Augen an. Sie sah wie eine verblasste Version der Dame auf dem Ölgemälde aus, nur dass der Maler ihre Pockennarben, die ziemlich auffallend waren, taktvollerweise fortgelassen hatte.
    »Diese Hitze muss sehr ermüdend für Sie sein, Mrs Thorold«, sagte Mary zögernd.
    »So ist es«, nickte die Dame des Hauses. »Nichts für die Nerven, wie meine Ärzte sagen.« Sie ließ den Blick über Marys Gesicht und ihr schlichtes, unmodernes Kleid gleiten. Es war nicht auszumachen, wie viel ihr kurzsichtiger Blick in dem von Gaslicht erleuchteten Zimmer erkennen konnte.
    »Nehmen Sie doch bitte Platz.« Mrs Thorold deutete auf das Sofa, das ihrem Sessel direkt gegenüber stand, und wandte sich an den Lakai. »William, Sie können den Tee servieren. Und   – und sagen Sie Angelica, ich wünsche, dass sie Miss   …« Sie blieb stecken.
    »Quinn«, half Anne Treleaven aus. Das war der Nachname von Marys Mutter gewesen, den Mary zu Beginn ihrer Zeit am Institut angenommen hatte. Nach
Mary Lang
wurde ja immer noch gefahndet,da sie eine Person war, die sich ihrem Schicksal, dem Galgen, entzogen hatte. Außerdem zog Mary einen weniger auffallenden Namen vor, aus Gründen, die zuzugeben sie sich weigerte, sogar vor sich selbst.
    Geschickt brachte Anne Treleaven das Gespräch auf Marys Fähigkeiten als professionelle Gesellschafterin   – Briefe schreiben, Vorlesen, gutes Französisch, vornehmen Geschmack in Bezug auf Literatur   – und bot Mrs Thorold die Gelegenheit, Mary zu diesen Themen zu befragen. Gerade beschrieb Mary, was sie zurzeit las (eine Sammlung von Predigten), da öffnete sich die Tür zum Salon, und Mrs Thorolds Gesicht leuchtete auf.
    »Angelica, Liebling. Komm her und lerne Miss Treleaven und Miss Quinn kennen.«
    Es war das Mädchen von dem Porträt   – genauso hübsch und genauso protzig gekleidet, wenn auch jetzt gerade mit zusammengekniffenen Augen und feindseligem Blick, der von Anne Treleaven zu Mary glitt. »Sie sind das also?«, fragte sie
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