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Ein toter Lehrer / Roman

Ein toter Lehrer / Roman

Titel: Ein toter Lehrer / Roman
Autoren: Simon Lelic
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deutete darauf hin, dass das Haus noch bewohnt war. Der Fernseher in der Ecke war ausgeschaltet.
    Sie trat durch das Gartentor und klinkte es wieder zu. Als sie an David vorbeiging, spürte sie seinen Blick. »Hast du’s dir etwa anders überlegt?«, fragte er, aber sie antwortete nicht.
    Im Briefkasten steckte ein Anzeigenblatt. Ein Packen Prospekte war herausgefallen und lag auf der Fußmatte. Lucia suchte die Klingel, fand aber keine. Nach einem kurzen Blick zu David klopfte sie zweimal gegen die Milchglasscheibe in der Tür.
    »Das hört doch keiner«, sagte David.
    Aber kurz darauf waren Schritte zu hören. Jemand kam die Treppe herunter, offenbar ziemlich schnell. Das Getrappel endete mit einem dumpfen Schlag, und für ein oder zwei Sekunden war es still. Dann klimperte eine Kette, das Schloss klackte, und jemand zog die Tür nach innen auf. Auf Höhe von Lucias Taille erschien das Gesicht eines Mädchens.
    Sie sah nicht aus wie Elliot. Ihr Haar war so blond, dass es fast aussah wie gebleicht. Wenn sie überhaupt Sommersprossen hatte, dann solche, die nur in der Sonne sichtbar wurden. Und während Elliot schmutzig graue Augen gehabt hatte, waren ihre blau. Ihre Nase, leicht abgeflacht, könnte der ihres Bruders geähnelt haben, ebenso wie die Sorgenfalten auf ihrer Stirn. Was Lucia jedoch am meisten an Elliot erinnerte, war der Gesichtsausdruck des Mädchens. Ihre Miene wirkte besorgt, beinahe furchtsam.
    Doch als sie sprach, war von Elliots Schüchternheit nichts zu spüren. »Ja?«, sagte sie.
    »Hallo«, antwortete Lucia. »Du bist sicher Sophie.«
    Das Mädchen runzelte die Stirn. Sie sah David an, und ihr Blick verfinsterte sich noch weiter.
    »Das ist David. Und ich heiße Lucia. Ist dein Vater zu Hause, meine Kleine? Deine Mutter?«
    »Seid ihr Reporter?«
    Lucia schüttelte den Kopf. »Nein. Wir sind keine Reporter.«
    Das Mädchen kniff die Augen zusammen. »Wie heißt das Passwort?«
    Lucia sah David an. David sah Lucia an.
    »Passwort?«, fragte Lucia. »Ich fürchte, wir kennen es nicht. Wenn du vielleicht einfach …«
    Die Tür schloss sich wieder, und Lucia blickte auf den abblätternden senfgelben Lack.
    »Und nun?«, fragte David.
    Lucia zögerte, dann klopfte sie noch einmal, lauter als beim ersten Mal. Kaum dass sie die Hand wegzog, rasselte es, und die Tür wurde weit geöffnet. Vor ihr stand Elliots Vater. Seine Tochter saß im Flur auf der untersten Treppenstufe, die Ellbogen aufgestützt und das Kinn in den Händen, und fixierte Lucia und David: Eindringlinge.
    »Detective May«, sagte Samson. Von David nahm er kaum Notiz. Selbst als Lucia ihren Begleiter vorstellte, war Samsons Handschlag oberflächlich, mechanisch und desinteressiert. »Kommen Sie herein«, sagte er. »Sophie, hol deine Mutter. Und räum deine Sachen weg.«
    Ein aufgeschlagenes Bilderbuch lag verkehrt herum auf einer der Stufen. Sophie schnappte es sich und stampfte die Treppe hoch.
    »Tut mir leid«, murmelte Samson und bat sie mit einer Geste ins Wohnzimmer. David dankte ihm. Lucia ging voran.
    »Nehmen Sie Platz«, sagte Samson, und sie setzten sich nebeneinander auf das blassgrüne Sofa, das Lucia von draußen durch das Fenster gesehen hatte. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich in die Polster sinken lassen wollte, widerstand aber und rutschte ganz vor, bis sie auf der Kante saß, die Füße eingezogen und die Hände im Schoß gefaltet. David nahm dieselbe Haltung ein.
    »Entschuldigen Sie bitte das Durcheinander«, sagte Samson, obwohl von einem Durcheinander keine Spur war. Lucia vermutete, er meinte die Kartons, die auf der anderen Seite des Raumes neben dem Esstisch gestapelt waren. Lucia konnte nicht erkennen, was darin war, aber aus dem Wohnzimmer war bis auf die Möbel, ein paar Bilder und die aktuelle
Times,
die zwischen der Armlehne des Sofas und einem Kissen klemmte, alles verschwunden. Lucia erinnerte sich an das Chaos bei ihrem letzten Besuch bei den Samsons: Bücherstapel, Jacken und Schuhe im Flur, Sophies Fahrrad, die Reste vom Frühstück, verstreut wie Brotkrümel – kurzum, das Haus hatte vor Leben aus allen Nähten zu platzen gedroht.
    »Sie ziehen um?«, fragte Lucia, aber Samson schüttelte den Kopf.
    »Wir haben bloß entrümpelt. Ein paar Sachen aussortiert. Altes Zeug. Hauptsächlich Kindersachen. Ich sollte Ihnen einen Tee anbieten. Oder lieber einen Kaffee?«
    David sah Lucia an. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank.«
    Dann wurde es still. Samson stand noch immer an der Tür,
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