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Ein toter Lehrer / Roman

Ein toter Lehrer / Roman

Titel: Ein toter Lehrer / Roman
Autoren: Simon Lelic
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was sie weiß. Eigentlich nicht einmal das. Ich hätte ihr bloß einen Einstieg liefern müssen.
    Stattdessen versuchte ich den Rest meiner Freistunde, mich auf meine Korrekturen zu konzentrieren. Und danach hatte ich Unterricht. Am nächsten Tag, Dienstag war das, kam Samuel gar nicht zur Schule. Angeblich war er immer noch krank, mehr bekam ich nicht heraus. Am Mittwochmorgen sah ich ihn dann. Ich war im Lehrerzimmer, und ich muss gestehen, ich hatte schon fast vergessen, warum ich ihn so dringend gesucht hatte. Na ja, nicht vergessen. Es war eher so, dass sich das ungute Gefühl in eine Art bloße Neugier verwandelt hatte. Erst als er zur Tür hereinkam – alle anderen waren schon wieder auf dem Weg nach draußen –, stellte sich diese Dringlichkeit wieder ein.
    Er trug immer noch denselben Anzug, dasselbe Hemd und dieselbe Krawatte. Diesmal gab es keinen Zweifel mehr, dass seine Sachen ungewaschen, schmutzig und zerknittert waren. Außerdem roch er. Das merkte ich selbst von weitem, weil die Kollegen, an denen er vorbeiging, zusammenfuhren, die Nase rümpften und ein Stück zurückwichen, um ihn ja nicht zu berühren. Die Versammlung fing gleich an –
die
Versammlung –, aber ich blieb trotzdem noch, um vielleicht doch mit ihm reden zu können. Aber dann kam Vicky Long und nahm mich am Arm. Sie redete auf mich ein, zog mich Richtung Tür. Und ich versuchte, mich loszumachen, aber ehe ich michs versah, war ich auch schon im Flur, und Samuel blieb allein im Lehrerzimmer zurück. Vicky erzählte mir von einem Theaterstück, bei dem sie Regie führte. Das Stück für die Feier zum Trimesterende, es spielt in Oklahoma! Ihr fehlte noch ein Cowboy, und sie hoffte, dass ich die Rolle übernehme. Kaum Text, nur ein paar Zeilen, sagte sie, und praktisch kein Gesang. Gut, ein oder zwei Tanzeinlagen, aber nichts Kompliziertes. Eine Gigue. Ein Twostepp. Das hätte ich in einer Viertelstunde drauf. Na ja, vielleicht in einer halben – eine Viertelstunde pro Tanz. Was ich dazu sagen würde? Ob ich dabei wäre? Es würde ja so viel Spaß machen. Also, ob ich nun mitmache? Was ich denn nun dazu sage?
    Ich sagte gar nichts. Wir waren unterdessen in der Aula, gingen das Treppchen zur Bühne hoch. Ich setzte mich. Irgendwas oder irgendwer erregte Vickys Aufmerksamkeit, und sie ging hinüber zu den Stühlen auf der anderen Seite des Rednerpults. Ich sah hinab auf die Stuhlreihen vor mir. Die Kinder saßen schon. Manche flüsterten, ein oder zwei lachten oder vielmehr kicherten, aber die meisten waren ernst. Der Aufruf des Direktors hatte seine Wirkung getan, sie wussten, dass etwas passiert war. Sie wussten, dass der Direktor ein großes Donnerwetter loslassen würde.
    Ich hielt immer noch Ausschau nach Samuel, als Mr. Travis in die Aula kam. Er schloss die Flügeltür hinter sich, mit einem ruhigen Klacken, das irgendwie unheilvoller war, als wenn er sie zugeworfen hätte. Die Kinder blickten starr nach vorn, auf ihre Hände im Schoß oder auf ihre Füße. Ein paar taten lässig, unerschütterlich. Auf der Bühne waren zwei Plätze leer: der hinter dem Rednerpult und einer auf Vickys Seite, direkt neben dem Pult. Aber das bemerkte offenbar keiner der Lehrer. Alle sahen den Direktor an, der gemessenen Schrittes zur Bühne ging. Er trug einen grauen Anzug und eine schwarze Krawatte. Seine Schuhe waren blank poliert wie bei der Armee, und obwohl seine Schritte nicht laut waren, hallten sie durch den ganzen Saal. Sie hatten etwas von einem Countdown.
    Den Rest kennen Sie ja sicher, Detective. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, mit Samuel zu reden. Ich habe sie verpasst. Ob ich überhaupt irgendetwas hätte ändern können – ich werde es nie erfahren. Vielleicht hätte ich es gekonnt. Aber vielleicht hätte das, was dann geschah, trotzdem einen Weg gefunden.
    Das ist kein großer Trost, nicht wahr? Das ist wirklich kein großer Trost.

A m Gartentor blieb Lucia stehen. David war bereits weitergegangen und einige Schritte vor der Tür. Als er merkte, dass Lucia nicht mehr an seiner Seite war, blieb er stehen.
    »Was ist?«, fragte er.
    Lucia sah hoch zum Haus. Es wirkte leer, beinahe verlassen. Hinter keinem Fenster rührte sich etwas. Oben waren alle Gardinen zugezogen, auch die in Elliots Zimmer. Durch das Erkerfenster im Erdgeschoss sah Lucia ein leeres Sofa, einen Couchtisch, darauf nichts als ein Stapel Untersetzer, und einen Teppich, auf dem weder Spielzeug noch Zeitschriften, Turnschuhe oder Pantoffeln lagen: Nichts
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