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Ein süßer Traum (German Edition)

Ein süßer Traum (German Edition)

Titel: Ein süßer Traum (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
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gewartet hat?«
    »Du lieber Gott«, sagte Colin. »Typisch.«
    »Ich hole sie her.« Johnny marschierte schon hinaus; im Vorübergehen streifte er seine Ex-Frau und die beiden Söhne, ohne sie anzusehen.
    Niemand rührte sich. Frances dachte, dass sie umfallen würde, stünden ihre Söhne nicht so dicht bei ihr und hielten sie mit ihrer Unterstützung aufrecht. Alle Gesichter am Tisch waren ihnen zugewandt: Zumindest hatten sie begriffen, dass dies ein schmerzlicher Augenblick für sie war.
    Sie hörten, wie die Haustür aufging – Johnny hatte natürlich einen Schlüssel zum Haus seiner Mutter –, und dann stand in der Tür zu diesem Raum, zur Küche, eine kleine, verschreckte Gestalt in einem großen Dufflecoat, zitternd vor Kälte, und versuchte zu lächeln, aber stattdessen brach ein gewaltiges Heulen aus ihr hervor, als sie Frances ansah, von der sie gehört hatte, dass sie nett war und sich um sie kümmern würde, »bis wir alles geklärt haben«. Sie war wie ein kleiner, vom Sturm verwehter Vogel, und schon ging Frances durch die Küche auf sie zu und schloss sie in die Arme und sagte: »Ist schon gut, schschsch, ist schon gut.« Dann fiel ihr ein, dass das kein Kind war, sondern ein ungefähr vierzehnjähriges Mädchen, und dass ihr Impuls, sich zu setzen und dieses heimatlose Kind auf den Schoß zu nehmen, unpassend war. Unterdessen sagte Johnny, der dicht hinter dem Mädchen stand: »Zeit fürs Bett, denke ich«, und dann in die Runde hinein: »Ich verschwinde.« Aber er rührte sich nicht vom Fleck.
    Das Mädchen blickte flehentlich zu Andrew, dem Einzigen, den sie unter all den Fremden kannte.
    »Kein Problem, ich kümmere mich darum.« Er legte den Arm um Tilly und machte Anstalten, aus dem Zimmer zu gehen.
    »Ich bringe sie runter ins Souterrain«, sagte er. »Da unten ist es schön warm.«
    »Oh nein, nein nein, bitte«, schrie das Mädchen. »Nicht, ich kann nicht allein sein, ich kann nicht, bitte nicht.«
    »Natürlich nicht, wenn du nicht willst«, sagte Andrew. Und dann zu seiner Mutter: »Ich stelle für heute Nacht bei mir ein Bett auf.« Und er führte sie hinaus. Alle saßen still da und hörten zu, wie er sie die Treppe hinauflockte.
    Johnny stand Frances direkt gegenüber, und sie sagte leise zu ihm: »Geh weg, Johnny. Verschwinde einfach«, und hoffte, dass die anderen es nicht hörten.
    Er versuchte, gewinnend in die Runde zu lächeln, fing Roses Blick ein, die zurücklächelte, aber mit einem Anflug von Skepsis, hielt Sophies leidenschaftlichem Vorwurf stand und nickte Geoffrey ernst zu, den er seit Jahren kannte. Und ging. Die Haustür fiel ins Schloss. Die Autotür schlug zu.
    Colin stand ganz nah bei Frances, berührte sie am Arm, an der Schulter, wusste nicht, was er sonst machen sollte.
    »Komm«, sagte er. »Komm mit nach oben.« Sie gingen zusammen hinaus. Auf der Treppe fing Frances an zu fluchen, zuerst leise, damit die jungen Leute sie nicht hörten, und dann laut: »Scheiße, Scheiße, Scheiße, dieser Scheißkerl, dieser verdammte
Scheißkerl
.« In ihrem Wohnzimmer setzte sie sich auf das Sofa und weinte, und schließlich kam der ratlose Colin auf die Idee, ihr Taschentücher und ein Glas Wasser zu holen.
    Inzwischen hatte Julia von Andrew erfahren, was vorging. Sie kam herunter, öffnete, ohne zu klopfen, Frances’ Tür und marschierte herein. »Bitte erkläre mir das«, sagte sie. »Ich verstehe das nicht. Warum lässt du zu, dass er sich so benimmt?«
     
    Julia von Arne wurde in einem besonders reizvollen Teil Deutschlands geboren, in der Nähe von Stuttgart, einer Gegend, in der es Hügel, Flüsse und Weinberge gab. Sie war das dritte Kind und einzige Mädchen einer freundlichen, liebenswürdigen Familie. Ihr Vater war Diplomat, ihre Mutter Musikerin. Im Juli 1914 kam Philip Lennox zu Besuch, ein viel versprechender Dritter Sekretär aus der Botschaft in Berlin. Niemand hätte sich gewundert, wenn sich die vierzehnjährige Julia in den gut aussehenden Philip – er war fünfundzwanzig – verliebt hätte, aber er verliebte sich in sie. Sie war hübsch, von winziger Statur, hatte goldene Ringellocken und trug Gewänder, die dem romantischen jungen Mann wie Blumen erschienen. In aller Strenge war sie von englischen und französischen Gouvernanten erzogen worden, und es kam ihm vor, als folgte jede ihrer Gesten, jedes Lächeln, jede Drehung ihres Kopfes einer vorgeschriebenen Verhaltensregel, als bewegte sie sich in einem einstudierten Tanz. Wie bei allen Mädchen,
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