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Ein perfektes Leben

Ein perfektes Leben

Titel: Ein perfektes Leben
Autoren: Leonardo Padura
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nüchtern bist, denk mal ein wenig über die Sache nach. Später reden wir darüber.«
    »Was meinst du, was ich tun werde? Woran werd ich wohl denken? Bis später.«
    »Guten Appetit, Bruder.«
    »Ich grüß Mama von dir, Bruder«, sagte der Dünne und legte auf. Mario Conde dachte: Das Leben ist beschissen.
    Der dünne Carlos ist nicht mehr dünn, er wiegt mehr als zweihundert Pfund und riecht säuerlich wie alle Dicken. Das Schicksal hat seine Wut an ihm ausgelassen. Aber als ich ihn kennen lernte, war er so dünn, dass er jeden Augenblick durchzubrechen drohte. Er setzte sich an das Pult vor mir, neben den Hasenzahn, ohne zu ahnen, dass wir auf diesen Plätzen am Fenster während der gesamten Oberstufenzeit sitzen würden. Er besaß ein furchtbar scharfes Messer, ein Skalpell, mit dem er die Stifte anspitzte. Einmal sagte ich zu ihm: »He, Dünner, leih mir mal das Messer da«, und von dem Tag an nannte ich ihn »Dünner«. Ich konnte ja nicht wissen, dass er mein bester Freund werden und eines Tages nicht mehr dünn sein würde.
    Tamara setzte sich zwei Reihen vor den Hasenzahn. Niemand wusste, warum man ihre Zwillingsschwester in eine andere Klasse gesteckt hatte, wo sie doch vorher in dieselbe Schule gegangen waren, denselben Familiennamen und sogar das gleiche bildhübsche Gesicht hatten, nicht wahr? Aber dann waren wir auch wieder froh, denn Aymara und Tamara sahen sich so ähnlich, dass wir vielleicht nie gewusst hätten, wer die eine und wer die andere war. Als der Dünne und ich uns gleichzeitig in Tamara verliebten, hörten wir um ein Haar für immer auf, Freunde zu sein, und es war Rafael, ausgerechnet, der das Problem löste: weder der Dünne noch ich! Er gestand Tamara seine Liebe, und zwei Monate nach Schulbeginn waren die beiden bereits ein Paar, eins von denen, die wie Kletten aneinander hängen, die in den Pausen unzertrennlich sind und die zwanzig Minuten damit zubringen, miteinander zu reden und sich in die Augen zu schauen, Hand in Hand, so weit weg von dem weltlichen Treiben, dass sie sich überall abknutschen. Ich hätte die beiden umbringen können.
    Der Dünne und ich aber blieben Freunde und waren nach wie vor in Tamara verliebt. Wir konnten unseren Frust gemeinsam abreagieren, indem wir uns Katastrophen für Rafael ausdachten, ein gebrochenes Bein oder Schlimmeres. Und wenn wir besonders schlecht drauf waren, stellten wir uns vor, wie wir mit Tamara und Aymara »gehen« würden (wer mit wem, war uns damals egal, obwohl wir beide immer nur in Tamara verliebt waren, keine Ahnung, warum, wo sie doch beide gleich hübsch waren). Wir heirateten und wohnten in vollkommen identischen, direkt nebeneinander liegenden Häusern, die sich so glichen wie die Zwillinge. Zerstreut, wie wir waren, verwechselten wir manchmal die Häuser und die Schwestern, und Aymaras Mann landete bei Tamara und umgekehrt, und wir amüsierten uns prächtig, und später bekamen wir Zwillinge, die am selben Tag geboren wurden – vier Jungen auf einmal –, und die Ärzte, die ebenso zerstreut waren wie wir, verwechselten die Mütter und die Kinder und sagten: Zwei hierhin, zwei dorthin, und die Jungen wuchsen gemeinsam auf und saugten an den vier Mutterbrüsten, und später dann verwechselten auch sie ständig die Häuser, und wir verbrachten Stunden damit, dummes Zeug zu reden, bis die Jungen groß waren und Vierlinge heirateten, die sich ebenfalls aufs Haar glichen, und da wurde das Ganze unübersichtlich. Wenn Josefina von der Arbeit nach Hause kam, drehte sie das Radio leiser. Ich weiß nicht, wie ihr dieses Gedudel den lieben langen Tag ertragen könnt, sagte sie kopfschüttelnd, ihr werdet noch taub davon, verdammt, sagte sie und mixte uns einen Shake – manchmal einen Mango- oder einen Mamey-Shake und sonst einen Schoko-Shake.
    Als wir zum letzten Mal davon faselten, die Zwillingsschwestern zu heiraten, war der Dünne noch dünn. Wir besuchten die letzte Oberstufenklasse, er ging mit der Dulcita, und die Cuqui hatte sich bereits mit mir verkracht, als Tamara vor der ganzen Klasse verkündete, dass sie und Rafael heirateten und uns alle einluden. Das Fest sollte bei Tamara zu Hause stattfinden. Obwohl die Partys dort immer erstklassig waren, schworen wir uns, nicht hinzugehen. An jenem Abend soffen wir uns zum ersten Mal so richtig die Hucke voll. Damals war schon ein Liter Rum zu viel für uns beide, und Josefina musste uns waschen, uns einen Löffel Belladonna gegen die Kotzerei verabreichen und uns sogar einen
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