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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk
Autoren: Heinz G. Konsalik
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selbstgeflochtenen ovalen Schneeschuhen. Zwei Meter ist er groß. Und allen erzählt er, daß er einmal an der Lena einen Tiger gesehen hat, einen einsamen Wanderer wie er. Sie haben sich angesehen, haben geahnt, daß sie gleich stark sind, und jeder zog seinen Weg weiter. Niemand wollte Pawel Andrejewitsch das glauben, nicht einmal der gutmütige Victor Pawlowitsch Unjeski in Taragaisk.«
    Er schwieg und sah Inken Holgerson an. In ihrem Blick erkannte er Angst und ehrliche Sorge. Mit einem schmalen Lächeln schüttelte er langsam den Kopf.
    »Nein, Inken, ich bin weder krank noch verrückt. Es war nur ein Takt der Melodie, von der du sagst, daß ich sie allein in meinem Inneren höre. Es ist die Welt Anuschkas.«
    »Die stärker ist als ich.«
    »Ja.«
    »Eine Russin!« Inken Holgersons Lippen wurden verkrampft. »Du tauschst mich gegen eine Halbwilde? Du sagst mir ins Gesicht, dieses Weib in Sibirien, diese analphabetische Asiatin, liebst du mehr? Wo ist sie denn, diese Anuschka?«
    »Sie kann lesen und schreiben und weben und nähen. Sie ist in Taragaisk in die Schule gegangen. Sie ist klug und verständig.«
    »Ich hasse sie! Ich hasse sie!« schrie Inken Holgerson. »Ich könnte ihr ganzes Leben ausrotten, so hasse ich sie. Ich könnte sie ihren Wölfen zum Fraß vorwerfen!« Ihre rechte Hand schlug mit der Faust auf die Lederpolster des Sitzes. »Wo ist sie denn? Ist sie nach Bremen gekommen? Hast du sie geholt?«
    »Nein. Sie lebt noch in Torusk.«
    Eine ganze Weile war es still. Inken Holgerson atmete in kleinen Stößen. Ihre Gedanken überstürzten sich. Er ist wirklich verrückt, dachte sie erschrocken. Er liebt ein Mädchen tief drinnen in Sibirien. Er liebt ein Mädchen, das er jahrelang nicht mehr gesehen hat. Jahrelang. Man muß schon rechnen und das Leben des Martin Abels aufrollen, um festzustellen, wie komplett dieser Irrsinn ist. Jetzt schreiben wir 1963. Wie lange ist es dann her? … Richtig, acht Jahre! Vor acht Jahren ist er aus der russischen Gefangenschaft zurückgekommen, so hat er es selbst erzählt. Vor acht Jahren also hat er das Mädchen Anuschka zum letztenmal gesehen, und seitdem träumt er von den Wäldern der Taiga und hört in sich den Gesang der Lenafischer, wenn sie nach der Eisschmelze hinausfahren auf das riesige, gurgelnde Wasser, um die ersten Reusen auszulegen. Acht Jahre! Er tauscht sie ein gegen mich, die ich Gegenwart bin, heiße, liebende Gegenwart.
    »Wir sehen uns morgen wieder«, sagte Inken Holgerson und versuchte, gütig zu lächeln. Er ist doch ein großer Junge, das war ihr tröstender Gedanke. Er kann ein Werk mit 2.000 Arbeitern regieren, aber in den Augen einer Frau ist er Held und Kind zugleich.
    »Laß uns Abschied nehmen, Inken«, antwortete Martin Abels müde.
    »Ich komme dich um vierzehn Uhr zum Tennis abholen, Liebster.«
    »Ich werde nicht zu Hause sein.«
    »Dann um zwanzig Uhr zum Abendessen bei uns.«
    »Begreif es doch, Inken … wir müssen einander vergessen. Oder soll ich klarer werden? Soll ich sagen: Das alles ekelt mich an! Diese hohle, fade Wohlstandsgesellschaft, dieses Leben um des Geschäftes willen, dieses Poussieren um Kredit und Aufträge, diese Heuchelei, die man Party nennt, dieser Betrug, den man als Freundschaft deklariert. Ich habe genug davon. Ich habe mitgespielt bis zu einem gewissen Grad, ich mußte es, um das zu werden, was ich jetzt bin. Es gehört zu unserer modernen Gesellschaft, das eigene Ich zu verleugnen und den After mehr zu ehren als das Hirn. Nur so kommt man vorwärts, nur so wird man Vorstandsmitglied und Aufsichtsratsvorsitzender. Wer am besten leckt, kann später um so besser selbst geleckt werden. Das alles finde ich zum Kotzen! Alles – einschließlich deines Vaters!«
    »Danke. Das war deutlich genug!« Inken Holgerson knallte die Tür zu und startete. Der Motor heulte auf. Sie kurbelte die Scheibe herunter und steckte ihr verzerrtes Gesicht hinaus. »In ein Irrenhaus gehörst du!« schrie sie wild. Eine Verzweiflung ohnegleichen hatte sie ergriffen. Sie fühlte sich wie ins Gesicht gespuckt, und das von dem einzigen Mann, den sie liebte und zu dem sie aufgeblickt hatte wie zu einem kleinen Gott. »Ich will dich nie, nie wiedersehen! O Himmel, wie ich dich hasse! Geh aus dem Weg, sonst fahre ich dich um … du … du …« Sie suchte nach einer Beleidigung, und da sie keine fand, schrie sie grell: »… du russischer Idiot!«
    Mit einem Satz schoß der schwere Wagen vorwärts und raste die Straße hinunter.
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