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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sie holen.«
    »Jetzt ist er total übergeschnappt!« rief Heinz Fernholz. »Herr Wirt, bitte einen Holzhammer!«
    »Ich habe jetzt die Möglichkeit, mich um Anuschka zu kümmern. Acht Jahre lang habe ich geschuftet, habe die kleine Fabrik meines Vaters zu einer über Deutschland hinaus bekannten erfolgreichen Firma gemacht, habe Geld und Aktien gesammelt wie andere Briefmarken oder Bierdeckel. Jetzt kann ich endlich an mich und Anuschka denken. Ich kann das, für das ich acht Jahre gearbeitet habe, in die Tat umsetzen – nach Torusk fahren, als freier Mann.«
    »Die Sowjets werden dir was blasen!« Heinz Fernholz schüttelte den Kopf. Er verstand seinen Freund nicht mehr. Solange er geträumt hatte, ließ man es gelten und holte ihn nach einigen Gedenkminuten in die Wirklichkeit zurück. Aber jetzt wurde es ernst. Es gab gar kein Deuteln mehr – Martin Abels war dabei, seinem Phantom nachzujagen. Wie diese Jagd auslaufen würde, wußte jeder, nur er wollte es nicht einsehen. Mit der Verbissenheit eines Märtyrers klammerte er sich an seinen Glauben: Anuschka lebt! Und sie wartet auf mich.
    Martin Abels schloß die Augen. Petermann stieß Fernholz wieder an. Jetzt wandert er wieder, hieß das. Es war unheimlich mit ihm. Jeder, der an Sibirien dachte, fror bis auf die Knochen – er aber bekam das Lächeln tiefer Seligkeit auf die Lippen, und seine Augen verklärten sich. Und das bei einem Mann, der vor Kraft und Gesundheit strotzte, der wie ein Baum war, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, mit Muskeln an den Armen wie Drahtseilstränge und einem Kopf, der so männlich war, daß der Blick einer Frau weich und willig wurde.
    »Ihr könnt das alle nicht verstehen«, sagte Martin Abels langsam und betont. »Ihr habt nicht in Torusk gelebt, nicht in der Hütte Pawel Andrejewitsch Turganows – und wenn ich es euch erzähle, werdet ihr sagen: Was soll's? – Man muß das fühlen, Freunde … man muß zwischen Himmel und Hölle daherwandern, zwischen Sonne und Frost – man muß ein Herz haben, in das eine ganze Welt hineinpaßt, und auch dann wird man nur ein winziges Stück dessen erhaschen, was man Glück nennt.«
    Es war ganz still in der Ecke der ›Eule‹. Ludwig Petermann rauchte stumm, und Heinz Fernholz trank leise seinen Wein, ganz vorsichtig, als könne sein Schluckgeräusch schon störend wirken.
    »1955 war es«, sagte Martin Abels. Er hatte die Hände gefaltet und glich fast einem Märchenerzähler aus der guten, alten Zeit. »Ende September. Über den Wäldern von Torusk lag schon seit zwei Wochen Schnee. Noch war es nicht so kalt, aber die Bauern begannen schon ihre Fenster zu verkleben. Väterchen Frost kommt unangemeldet. Plötzlich ist er da, und sein eisiger Mantel weht vom Eismeer bis nach Irkutsk über das ganze riesige Land.
    Ich weiß es noch genau. Es war der 27. September 1955 –«
    *
    »Väterchen, wir sollten doch noch einmal nach Taragaisk fahren und Tee einkaufen. Wir haben noch ein paar Rubelchen gut bei Victor Pawlowitsch«, sagte Olga Turganowa und scheuerte dabei den Samowar aus Messing.
    Pawel Andrejewitsch nickte mehrmals und stopfte seine Pfeife mit grob gehacktem Machorka. Dabei blickte er zu Olga und schob die Unterlippe vor. Ein gutes Frauchen ist sie, dachte er. Dem Himmel sei Dank, daß ich sie habe. Sie kann kochen und Tiere enthäuten, Tran anrühren und Pelze nähen, sie hackt Holz und schaufelt Schnee, melkt die beiden Ziegen und füttert das Schwein. Und immer ist sie lustig und zufrieden, ein wahres Goldstück von Weibchen. Und Anuschka hat sie mir geboren, Anuschka, mein Engelchen, mein Täubchen. Allein schon deswegen sollte man sie unsterblich machen. Wer in ganz Torusk hat ein Kindchen wie Anuschka?
    Ganz Torusk besteht aus neunundvierzig Holzhütten, einer gemeinsamen großen Banja und einer ebenso gemeinsamen Stolowaja. Das ist ein Versammlungsraum, in dem die Parteiredner sprechen, von Planwirtschaft erzählen, von Ackerbau und Holznutzung – alles Dinge, die man in Jakutien schon seit Hunderten Jahren kennt und wozu man keinen Mann aus Irkutsk oder gar Moskau braucht, der einem erklären will, daß hier kein Mais wächst. Aus Moskau war übrigens in zehn Jahren nur einmal ein Experte in Torusk, aber zweimal jährlich kam der Bezirkssowjet aus Schigansk, ein schmächtiges Männchen mit einem widerlichen Tatarenbart und gelber Haut wie Tabakbeize, stellte sich ans Rednerpult und sagte keck: »Genossen – das Soll muß verdoppelt werden!« Jedes Jahr zweimal
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