Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt
Autoren: Stefanie Gercke
Vom Netzwerk:
sein. Die schwarzen Augen waren nur leere Löcher, als hätte sie alles Leben verlassen. Es war, als stünde nicht Nelly vor ihr, sondern nur ihre Hülle.
    Unwillkürlich fröstelte sie, trotz des heißen Abends. Der Alltag der Zulu wurde von Geistern bevölkert, die Schatten ihrer Ahnen lenkten ihr Leben, umgaben sie mit einer Mauer von Tabus, trieben sie durch ein dunkles Labyrinth von Aberglauben und Ängsten. Als sie noch sehr klein war, wurde Jill mit in diesen verwirrenden Irrgarten gezogen. Sie glaubte sich im Märchen, im Land der Feen und Kobolde, bewegte sich mit kindlicher Unbefangenheit. Doch je mehr sie lernte, je erwachsener sie wurde, desto weiter entfernte sie sich von Nellys übersinnlicher Welt, und eines Tages schlug die Tür zu. Sie stand draußen. So schob sie ihr Unbehagen jetzt auf etwas, was vor langer Zeit passiert war.
    Als kleines Mädchen war sie Nelly heimlich zur Hütte des Isangoma Umbani gefolgt. Mit zwei Fingern hatte sie eine Lücke ins Weidengeflecht der Rundhütte gebohrt und hindurchgeschaut. Die Luft, die aus dem Loch strömte, atmete sich schwer, war mit einem Gestank geschwängert, der sie an ihren Besuch im Raubtiergehege des Zoos erinnerte. Mühsam unterdrückte sie ein Niesen. Als sie den Isangoma erblickte, erstarrte sie vor Schreck, wagte nicht, sich zu rühren, denn er war nur zwei Meter von ihr entfernt. Er war riesig und schwarz, mit blutunterlaufenen Augen. Nelly saß vor ihm auf dem Boden, Umbani, der Isangoma, stand über ihr, und der zitternden Jill erschien er wie der Leibhaftige.
    Um seinen Kopf trug er einen Löwenschwanz, den mächtigen Körper bedeckte ein Leopardenfell, und eine geschmiedete Kette aus fingerdicken, nach außen zeigenden Eisenstacheln umschloss seinen Hals. Doch das, was Jill noch jahrelang in ihren Albträumen verfolgte, war die über einen Meter lange, armdicke Puffotter, die er mit seiner linken Hand packte. Den Kopf der Schlange, deren Biss in Minuten tötete, hielt er zwischen seinen Zähnen fest, so dass er in seiner Mundhöhle verschwand.
    Ein Zischen erfüllte den Raum. Ob es die Schlange war, die wild mit ihrem Schwanz peitschte, oder Umbani, der Zauberer, konnte sie nicht unterscheiden. Um nicht laut loszuschreien, steckte sie ihren Daumen in den Mund, wagte kaum zu atmen und machte sich zu ihrer Scham in die Hose. Erst als Umbani die Schlange mit den zentimeterlangen Giftzähnen sicher wieder in einem Korb verstaut hatte, fand sie den Mut, sich davonzuschleichen. Ihre Angst hatte der wütenden Schlange gegolten, keine Minute hatte sie geglaubt, dass Umbani übernatürliche Kräfte besaß. Sie fand ihn ziemlich dumm, dass er sich auf diese Weise mit einer Puffotter abgab.
    Sie hielt sich für eine ganz und gar aufgeklärte und nüchterne Person, und deswegen kam ihr auch nicht in den Sinn, in dem Vorfall am Beginn des heutigen Tages einen weiteren Hinweis auf kommendes Unheil zu sehen. Sie wurde davon vor Sonnenaufgang geweckt.
    Es war ein schwaches Geräusch, kaum mehr als ein leises Kratzen, nicht genug, um sie aufzuschrecken, aber es erreichte sie in ihrem Traum, und sie wachte auf. Nicht mit einem Ruck, sondern wie ein Fisch aus dunkler Tiefe tauchte sie ganz langsam auf zum Licht und durchbrach endlich mit einem Seufzer die Oberfläche ihres Bewusstseins. Sie öffnete die Augen, war sich nicht sicher, was sie gestört hatte.
    Die sonnengelben Baumwollgardinen blähten sich sacht im Wind, Morgenröte flutete durch den breiten Spalt in den Raum. Würziger Holzrauch hing in der klaren Luft und die volle Süße von erntereifen Ananas. Ein Hahn krähte, Kühe blökten, leise Stimmen und Lachen wie schläfriges Vogelzwitschern schwebten zu ihr herüber, ein Traktor sprang an und tuckerte davon. Das sagte ihr, dass Nelly und ihre Familie bereits ihren Phuthu, den Maisbrei, gefrühstückt hatten, die jüngeren Frauen auf dem Weg zur Ananasplantage waren und Ben ihnen mit dem Trecker vorausfuhr, dessen Anhänger sie im Laufe des Tages mehrfach mit reifen Früchten füllen würden.
    Erleichtert legte sie sich zurück. Es war nichts, alles war, wie es sein sollte. Vielleicht hing der Traum, aus dem sie aufgewacht war, ihr noch nach? Wie Blei lag er auf ihren Gliedern, zog sie seelisch herunter. Immer wenn etwas sie spätabends zu sehr aufwühlte, verfolgte sie das bis in ihre Träume.
    Angelica hatte um elf angerufen, ihre Stimme war hoch und dünn gewesen, wie immer, wenn sie erregt war. »Jilly, tut mir Leid, dass ich um diese Uhrzeit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher