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Ein Jahr in Stockholm

Titel: Ein Jahr in Stockholm
Autoren: Veronika Beer
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Perrelli sicherte Schweden 1999 als Charlotte Nilsson mit noch natürlicher Mimik und einem Lied der ABBA -Mitglieder Björn und Benny den Sieg beim Musikspektakel. Jetzt ist sie der lebende Beweis dafür, dass die plastische Chirurgie schauderhafte Verbrechen anrichten kann. Die Schweden finden das nicht weiter tragisch. Millionen geben Perrelli tolv poäng , zwölf Punkte, und schicken sie erneut ins Finale. Dort wird zwei Monate später kaum ein Mensch für sie zum Telefonhörer greifen können, weil ihr Anblick ganz Europa in Schockstarre versetzt.
    Und als wäre das alles nicht schlimm genug, muss ich auch noch feststellen, dass bei der Montageanleitung für meinen Tisch Seite zwei und eine Schraube fehlen. Ich lasse also meiner Kreativität freien Lauf, was man dem Möbel später nur unter extremer Belastung anmerkt.

    Mit der schwedischen Sprache verhält es sich leider anders. Zwar ist das Regelwerk dafür auch höchst lückenhaft und widersprüchlich – doch meine Improvisationen fallen auf. Glücklicherweise hat mir die Uni einen Tandempartner vermittelt, mit dem ich mich nicht sonntags zum Radfahren treffe, wie Elin vermutet, sondern auf den Sitzbänken im Unigebäude, um mein Schwedisch und im gleichen Aufwasch sein Deutsch zu polieren.
    Wie verabredet wartet Anders am Geländer im A-huset auf mich. Er trägt ein Ensemble aus Schwarz; der Ledermantel mit hochgestelltem Kragen reicht ihm bis zu den Knöcheln. Als mich der seit Tagen tobende Schneesturm durch die Tür drückt, plustert sich Anders auf wie eine nasse Amsel an einem Sommerabend. Es dauert eine Weile, bis bei ihmdie Luft raus ist und ich mir die dicksten Eisbrocken vom Mantel geklopft habe.
    Wir machen fika und beschnuppern uns. Schnell steht fest: Anders ist sehr speziell, anders eben, aber auf eine ungemein gute Art. Nach ironischen Anspielungen auf die deutsche Geschichte fällt er seinen eigenen Landsleuten in den Rücken, was ihm besondere Freude bereitet. Seine spitzen Zähne blitzen, als er mir den Stammbaum des Königshauses Bernadotte auf die Rückseite des Kassenbons skizziert und dazu erläutert: „Alles, was die Schweden in Bezug auf Philosophie zu Stande gebracht haben in den vergangenen Jahrhunderten, war –“, Spannungspause, „dass sie Descartes ein Grab geschaufelt haben.“
    Ich bin mir sicher, dass ich seine schwedischen Ausführungen gründlich missverstanden habe. Nach den Fettnäpfchen der ersten Wochen bin ich schlauer geworden und frage lieber öfter nach: „Ist Descartes nicht Franzose? Und schaufeln, ist das das mit einer Schaufel?“ Anders muss lachen, als ich die Fäuste balle und ein paar Spatenstiche imitiere. „Natürlich ist Descartes Franzose“, nimmt er das Gespräch wieder in Angriff: „Und den haben wir umgebracht, kannste mal sehen!“
    Ich weiß nicht, was ich mit dieser Information anfangen soll. Mein Tandempartner holt aus und berichtet mit allerhand Ausschmückungen, was sich damals, 1649 und 1650, nach seiner Meinung am Königshof zugetragen hat. Der Philosoph war nach mehrmaliger Einladung Königin Kristinas von Schweden nach Stockholm gereist. Beide hatten sich jahrelang Briefe geschrieben. Sie wollte sich von ihm unterrichten lassen, und er wollte Geld.
    „Erst meinte er, ein Mann, der in den Gärten der Touraine geboren wurde, wolle eben nicht ins Land der Bären ziehen, um zwischen Klippen und Gletschern zu leben.“ Anders ist total in seinem Element: „Das hätte er lieberbeherzigen sollen. Das Klima und das frühe Aufstehen bekamen ihm überhaupt nicht.“
    Ich nicke verständnisvoll. Diese schwedischen Untugenden machen mir momentan auch zu schaffen. Die Dunkelheit hat auf Dauer eine müde machende Sogwirkung. Und da selbst ich etwas Tageslicht brauche, muss ich so früh wie möglich hinaus in die Kälte, um auf Touren zu kommen. Mit Weggehen bis fünf und Frühstück um zwölf ist es schon lange nichts mehr. Ich fühle mich Descartes nah wie nie.
    „Offiziell starb er an einer Lungenentzündung. Doch in Wahrheit handelte es sich um eine Arsenvergiftung.“ Anders lehnt sich zurück, nimmt einen Schluck Tee und erwartet meine Reaktion. Lägen unsere Gesichter im Scheinwerferlicht einer Schreibtischlampe, befänden wir uns jetzt am Wendepunkt eines Tatorts . „Ach, glaub ich nicht“, entgegne ich, weil mir die geheimnisvolle Stimmung gerade gegen den Strich geht.
    Anders ist gekränkt. Als ich genussvoll in meine kanelbulle beiße, spricht er von schwarzem Speichelauswurf,
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