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Ein Jahr in New York

Titel: Ein Jahr in New York
Autoren: Nadine Sieger
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Stille meinerseits. Bleiben wollte ich ja eigentlich nur ein Jahr. Aber das war schon um! Eine Entscheidung war fällig.
    Valerie und ich saßen im Wohnzimmer, aßen selbst gemachtes salziges Popcorn und schauten uns eine alte Folge von „Sex and the City“ an. Jedes Mal wieder eine hervorragende Zerstreuung vom eigenen Alltag. So dachte ich, dann hielt die Protagonistin Carrie einen ihrer üblichen philosophischen Monologe. Zwei Sätze, die wie ein Blitz in meine Gemütslage einschlugen: „Vielleicht ist die Vergangenheit ein Anker, der uns zurückhält. Vielleicht muss man sein altes Ich loslassen, um zu werden, wer man eigentlich ist.“ Ein Wink des Schicksals? Meine selektive Wahrnehmung fand neuerdings allerorts Hinweise. Nur wusste ich leider nicht, wie ich sie deuten sollte. Eins war klar: Indem ich erst mal keine Entscheidung traf, war ich auf dem besten Wege, eine Entscheidung zu treffen. Im Büro rechnete man damit, dass ich blieb. Mit Noelle und Vanessa hatte ichschon Pläne für den kommenden Winter geschmiedet. Und meine Landlady Paula zählte weiter auf meine Miete. Nur ausgesprochen hatte ich es noch nicht. Warum nicht? Weil noch immer Zweifel zaghaft an mein Gewissen klopften. Mit traurigen Fragen wie: Willst du dich wirklich zwölf weitere Monate von der Heimat und den Liebsten entfremden, die ohnehin schon endlose viertausend Meilen weit entfernt sind? Dazu die sechs Stunden Zeitvorsprung, die die Kommunikation mit Deutschland extrem behindern. Wollte ich? Und dafür in einer fremden Stadt bleiben, die Monat für Monat mehr Zuhause, aber nie zur Heimat werden würde? Zugegeben, diese Distanz zur eigenen Heimat hatte mich mir selbst nähergebracht. Und das in einer Stadt, über die der Schriftsteller Henry Miller einmal gesagt hat: „New York hat die Vitalität eines Presslufthammers, die einen mit ihrer Rastlosigkeit in den Wahnsinn treibt, wenn man keine inneren Stabilisatoren besitzt.“ Er wusste, wovon er sprach. Die Stadt nimmt keine Rücksicht. Entweder man lässt sich euphorisch mitreißen oder man geht im Rausch unter. Manchmal erfindet sie sich in solch einer Geschwindigkeit neu, dass sie kaum mit sich selbst mithalten kann. Das fordert auf Dauer, aber es erfüllt auch. Wie viel inneres Gleichgewicht war notwendig? Ich sei die ausgeglichenste Person, der er je begegnet sei, hatte Jonathan mal zu mir gesagt. Ich hatte damals nur laut losgelacht. Im Vergleich zu Jonathan war nicht nur ich, sondern der Rest der Welt mit buddhistischer Gelassenheit gesegnet. Im Übrigen schien mein inneres Gleichgewicht nicht im Geringsten zu einer klaren Entscheidungsfindung beizutragen. Meine Gedanken kreisten. „Warum habe ich nur das Gefühl, dass das Leben in New York so fantastisch ist. Das macht es wirklich nicht einfacher“, seufzte ich in meine Popcornschüssel. Valerie schaute mich an. „Weil es so ist!!!!!“, sagte sie mitfünf hörbaren Ausrufezeichen, die gebündelt wie eine Rüge wirkten. Ich fragte mich, ob prominente „Expats“ wie David Bowie, Greta Garbo, John Lennon und Yoko Ono auch von so irdischen Gefühlen wie Zweifeln heimgesucht wurden. Damals, als sie ihren Heimatkontinent verließen, um ihr Leben in New York zu verbringen. Mit Vernunft hatte das alles wenig zu tun. Mein Herz schwankte. Aber ich spürte, wie New York es langsam überwältigte. Valerie tat das Ihre: „Und ich warne dich: Ich habe wirklich keine Lust, mich schon wieder auf eine neue Mitbewohnerin einzustellen“, witzelte sie. „Denk daran, wie gut du es hast: Millionen Menschen würden alles dafür geben, um hier leben zu können. Und du musst dich einfach nur entscheiden. Es wäre ein Verbrechen, wenn du diese Chance einfach sausen ließest“, beschwor sie mich, bevor wir ins Bett gingen. Ich hatte ihr schon den Rücken zugewandt, als ich sie noch leise sagen hörte: „Nadine, ich mein das ernst. Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn du noch bleibst. Have a good night.“ Darauf folgte eine unbeholfene Umarmung, auf die mir vor Rührung die Worte im Hals stecken blieben. Auf dem Weg in mein Zimmer hielt ich in der dunklen Küche inne, zog mir einen Stuhl ans Fenster und starrte auf das bezaubernde Funkeln der nächtlichen Skyline. Unser Kühlschrank brummte, und vom gummibärrot erleuchteten Empire State Building zuckte und blitzte es wie eh und je. Schon seit Wochen hatte ich mich von diesem Schauspiel nicht mehr beeindrucken lassen. Dabei konnte ich hier jeden Abend in der ersten Reihe sitzen. Ich
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