Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ein Jahr in London

Titel: Ein Jahr in London
Autoren: Anna Regeniter
Vom Netzwerk:
zu einem ihrer Vororte geworden. Die Bahnfahrt dauert nur fünfzig Minuten, für viele Londoner weitaus kürzer als die tägliche Fahrt zur Arbeit, und noch ehe wir uns versehen, atmen wir schon die salzige Luft des Seebades ein.
    Als wir bei Möwenschreien die steile Hauptstraße zur Seafront hinuntergehen, sieht man schon am Horizont das Meer silbrig über den Hausdächern schimmern. Über ein paar Umwege durch die belebten, engen Laines , das Zentrum des alten Fischerdörfchens, in dem sich heute ein Café an das andere reiht, gelangen wir schließlich an die Strandpromenade.
    Wir gehen im Sonnenschein am Meer entlang, vorbei an schlafenden Rentnern in blau-weiß gestreiften Sonnenstühlen, vorbei an Karussellen und unzähligen Süßigkeitenständen voller grellroter und gelber Zuckerstangen und natürlich den obligatorischen Fish-and-Chips-Shops . Eine kleine Portion vom BestFish’n’Chip Shop in the World leisten wir uns auch, setzen uns dann mit unseren Pommes mit Essig und zwei Plastikbechern Tee auf den Kieselstrand. Ein bisschen vermisse ich zwar die einsamen Sandstrände meiner Kindheits-Urlaube in Dänemark, aber Jake scheint ganz in seinem Element zu sein.
    „Wer da noch einen Urlaub nach Spanien bucht, muss verrückt sein! Besser als das hier geht nicht!“
    Wir überlegen, wie schön es wäre, hier zu wohnen: einen Steinwurf von London entfernt, vor uns das Meer und über uns die Möwen. Jake erzählt mir von seinem Bruder, der auf einer winzigen Insel namens Piel Island vor der englischen Nordwestküste wohnt, die zwar keinen Strom, dafür aber ihren eigenen König hat. Der jeweilige Landlord des einzigen Pubs der Insel hat seit dem Mittelalter das Recht, sich King of Piel Island zu nennen.
    „Nächstes Jahr müssen wir ihn unbedingt zusammen besuchen.“
    Aber erst einmal fantasieren wir weiter über Brighton.
    „Stell dir vor, du würdest jeden Morgen an der Strandpromenade entlang zur Arbeit gehen, anstatt dich in die volle U-Bahn pressen zu müssen“, träume ich vor mich hin.
    „Obwohl ich die Tube schrecklich vermissen würde. Egal wie voll und stickig.“
    „Das ist der Beweis: You are a proper Londoner now !“ Fast fühle ich mich mittlerweile wirklich so: Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, ist die Antwort ein automatisches „London“. Nord london, versteht sich.
    Ich schaue aufs Meer hinaus und beobachte die Möwen, die erschreckend tief über unseren Fish’n’Chips kreisen. Ein ganz besonders großes Exemplar setzt zum Sturzflug an und ich bewerfe den Vogel zur Abwehr mit dem größten Chip , der sich auf meinem Pappteller noch finden lässt. Die Möwe fängt ihn im Flug auf und wir haben erst mal unsere Ruhe.
    Dann zeigt Jake plötzlich auf eine Figur, die eilig an der Wasserkante entlangjoggt.
    „Das gibt es doch nicht, it’s the fucking jogger !“
    Jake hat wie so viele seiner Landsleute die Angewohnheit, um der Emphase willen in jeden Satz mindestens ein fucking einzubauen. Er scheint zu glauben, so seinen Aussagen mehr Gewicht zu verleihen.
    „ That’s fucking great!“ , ruft er, wenn Arsenal London endlich ein Tor schießt. „I can’t fucking believe it!“ , wenn der Gegner es tut.
    „Kannst du nicht mal aufhören, ständig zu fluchen, es hängt mir allmählich zum Hals raus“, beschwere ich mich dieses Mal.
    „ I never fucking do “, sagt er und schaut mich verwirrt an. „Wann um alles in der Welt habe ich denn zum letzten Mal geflucht?“ Ich gebe auf.
    „Du meinst doch wohl nicht etwa den Jogger?“
    In der Holloway Road begegne ich jeden Tag mindestens einmal einer merkwürdigen Gestalt, die von den anderen Bewohnern und meinen Freunden einfach als „der Jogger“ bezeichnet wird. Seinen Namen hat er auch wirklich verdient, denn tagaus, tagein trägt er, wie auch immer das Wetter sein mag, Joggingschuhe, knappe Shorts und ein T-Shirt mit der Aufschrift „Wimbledon 1987“.
    Trotz seines ständigen Joggens könnte er nicht ungesünder aussehen. Sein Gesicht und die staksigen, spargelähnlichen Beine sind so fahl, als hätten sie seit Jahren kein Sonnenlicht mehr gesehen, dabei sind sie ja ununterbrochen Wind und Sonne ausgesetzt und seine Wangenknochen stechen hervor wie Messerklingen.
    Die Gestalt kommt näher.
    „Kannst du nicht sein T-Shirt sehen? Das ist tatsächlich unser Jogger!“ Ich schiele gegen die Sonne und entziffere dann wirklich den unverkennbaren Schriftzug auf dem Hemd des Mannes.
    „Entweder er verfolgt uns oder er verbringt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher