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Ein Jahr in London

Titel: Ein Jahr in London
Autoren: Anna Regeniter
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begrüßt, was sich mit ihrem upper-class -Akzent jedoch eher wie „är, härlär“ anhört und wobei ihr Mund sich so wenig bewegt, als hätte sie gerade drei Pflaumen auf einmal im Mund.
    Ich habe mein Diktiergerät angestellt und höre kaum zu,was gesagt wird, denn mir geht nur ein Gedanke durch den Kopf: Ich habe Dennis versprochen, ein exklusives Zitat vom Mayor zum Thema Müllabfuhr in Tottenham zu bekommen. Und jetzt wird mir etwas flau im Magen, denn die ersten Fragen werden gestellt, und wenn ich mich nicht bald zu Wort melde, ist die Chance vorbei.
    „Paul Rothman, London Evening News. Darf ich fragen, was Sie den Londonern zu sagen haben, die einen Anstieg der Steuern zur Finanzierung der Olympiade befürchten?“
    „Gemma William, Daily Telegraph. Sind Sie der Meinung, Metalldetektoren an U-Bahn-Stationen seien hilfreich im Kampf gegen den Terror?“
    Eine Frage nach der anderen regnet auf den Mayor herab und mir wird klar, dass ich die einzige Lokalreporterin im ganzen Saal sein muss, und dazu noch die einzige Ausländerin, die kein perfektes BBC-Englisch spricht. Ich überlege mir, ob es vielen auffallen würde, wenn ich mir das Zitat einfach ausdenke. Wer liest schon den Tottenham Guardian? Den Leserbriefschreibern nach zu urteilen: niemand. Dann könnte ich mich jetzt einfach entspannt zurücklehnen und die Angst wäre überstanden. Aber mir kommt ein schrecklicher Gedanke: Ich stelle mir vor, wie der Parlamentsabgeordnete in Tottenham meinen Bericht liest, mit der Position des Mayors nicht übereinstimmt und sich deshalb bei ihm beschwert. Ich male mir aus, wie mein ausgedachtes Zitat in allen Zeitungen des Landes zitiert wird, der Mayor zurücktreten muss, bis dann schließlich meine Lüge ans Licht kommt und ich wegen Betruges im Gefängnis lande. Oder so ähnlich. Vielleicht ist es doch leichter, einfach mit meiner Frage rauszurücken.
    „Drei weitere Fragen nehme ich noch entgegen, dann müssen wir die Pressekonferenz beenden“, gibt Mr Livingstone in diesem Moment bekannt. Jetzt oder nie, denke ich.
    „Anna Regeniter, Tottenham Guardian“, rufe ich also, so selbstbewusst wie nur möglich. Doch was herauskommt, ist ein dünnes Stimmchen, das hinten im Saal wohl kaum noch zuhören ist. Trotzdem drehen sich alle zu mir um und warten gespannt.
    Ich muss schlucken, würde am liebsten im Boden versinken, aber bringe es dann schließlich doch heraus:
    „Die Einwohner Tottenhams sind äußerst besorgt darüber, dass viele Haushalte nicht mal eine Mülltonne zur Verfügung haben. Gibt es Pläne, dies zu ändern?“
    „Die Müllversorgung in ganz London wird gerade überprüft und wir beraten zurzeit, wie wir sie effektiver gestalten können.“
    Schon meldet sich ein anderer Journalist zu Wort und ich atme durch. Keine vielsagende Antwort, aber ich habe eine Antwort! Keine ausgedachten Zitate morgen und kein endloses Zittern um ein Auffliegen. Ich habe es geschafft! Doch noch eine Qual steht mir bevor, ohne die ich nicht nach Hause gehen kann: Ich muss ja noch Fotos machen.
    Um das Podium herum stehen um die zwanzig Pressefotografen mit ihren Stativen und 2-Meter-Linsen. Unmöglich kann ich mich dort mit meiner Handy-großen Digital-Kompaktkamera danebenstellen, ohne jegliche Achtung der anderen Journalisten einzubüßen. Ich bleibe also einfach sitzen und schieße von meinem Sitzplatz aus ein paar Fotos. Auf dem Bildschirm prüfe ich das Ergebnis: Außer den kahlen Köpfen der zwei Männer vor mir sieht man nichts. Also stehe ich kurzerhand auf, knipse ein paarmal und setze mich wieder. Zwar ist das Gesicht des Mayors nur so groß wie ein Nadelöhr, aber wenigstens versperren keine fremden Köpfe die Sicht.
    Die Journalistin beugt sich zu mir herüber.
    „Fürs Fotoalbum?“ Sie lächelt herablassend.
    „Unser Fotograf ist gerade krank“, antworte ich zähneknirschend. Ich wünschte, ich würde für eine Zeitung arbeiten, die sich wenigstens einen Fotografen leisten könnte.
    Beim Heraustreten aus dem Saal spricht mich ein Respekt einflößender Mann in schickem Jackett mit goldenen Manschettenknöpfen an.
    „Mein Name ist Richard Hanlon, New York Times . Nett, Sie kennenzulernen.“
    Ich drücke ihm die Hand und bin stolz, das Interesse einer so wichtigen Person erregt zu haben. Vielleicht gibt es in New York die gleichen Müllprobleme und er möchte ein Zitat von mir?
    „Nice to meet you.“
    „So jung und schon beim Guardian, da müssen Sie Talent haben!“ Er lächelt mich bewundernd
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