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Ein Jahr in London

Titel: Ein Jahr in London
Autoren: Anna Regeniter
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Jake als auch Maddie keine Zeit haben, versuche ich es zuerst bei meinen alten Primrose-Hill-Hausgenossen, aber Yitkee lehnt sofort ab. „Ich habe in Singapur schon genug Geister gesehen, da spukt es nämlich noch mehr als in England.“ Felice jedoch, unbekümmert wie immer, willigt sofort ein und Elli lässt sich schließlich auch überreden. So ziehen wir zu dritt gegen Abend los. Der Highgate Cemetery wäre der perfekte Drehort für Horrorfilme: hohe, halb verfallene Steinmauern, zum Teil völlig von Efeu berankt, umgekippte Marmorstatuen, überschattet von jahrhundertealten Laubbäumen, die im Wind knarren und große, herrschaftlich anmutende Mausoleen.
    Durch eine enge, steile Straße, der Swains Lane, die zum schönen Highgate Village führt, wird der Friedhof in zwei Hälften aufgeteilt: die weniger zugewachsene, neuere Ostseite, zu der man tagsüber für ein paar Pfund freien Zugang hat, und die wildere Westseite, die nur mit Führung zu betreten ist.
    Die nächste Führung ist erst in einer Stunde, teilt uns der alte Mann an der Pforte mit, und so schauen wir uns zuerst auf dem Ostteil um. Und der ist schon unheimlich genug, finden wir alle drei. Obwohl wir nur zwanzig Minuten von der Innenstadt entfernt sind, hört man außer Krähenschreien und dem Knarren der Äste nichts. Nur unsere Schritte auf dem Kies stören die Stille. Bis dann plötzlich der Lärm einer scheinbar größeren Gruppe von Menschen zu uns dringt.
    „Was ist denn da los?“, fragt Felice, und wir gehen weiter in Richtung der Stimmen, um es herauszufinden.
    Die Geräusche kommen immer näher, und wir erblicken vor uns eine Gruppe von zehn älteren Leuten, die mit Reiseführern in der Hand andächtig einer Frau zuhören. Ich schaffe es, die ersten Worte auszumachen.
    „Seine Verlobung mit Jenny von Westphalen musste er jahrelang geheim halten“, erzählt sie. „Dann, im Jahre 1843 …“
    „Ist das nicht Deutsch?“, fragt mich Elli und ich bejahe.
    „Was hat die denn hierher verschlagen?“
    Ich zeige auf die gigantische Abbildung eines rundlichen, bärtigen Mannes auf einem Grabstein ganz in der Nähe, vor dem etliche rote Rosen liegen. Wir stehen am Grab von Karl Marx.
    „Hat der aber einen Eierkopp“, ist die einzige Bemerkung, die die Reisegruppe der Statue abgewinnen kann, und ich bin froh, dass Elli und Felice kein Deutsch verstehen.
    „Ah, die Deutschen, immer so kultiviert!“, sagt Elli. „Während die anderen Touristen sich mit einer Busfahrt zum Oxford Circus und Big Ben begnügen, verbringen sie ihren Urlaub auf Friedhöfen und reden schlaues Zeug über Politik und Geschichte.“
    Wir folgen der Führung noch ein Stück weiter bis zum Grab der Schriftstellerin George Eliot, dann machen wir uns auf den Rückweg zum Haupttor, um rechtzeitig für unsere Führung über den Westteil zurück zu sein.
    Vor dem kleinen viktorianischen Eingangstor wartet schon eine kleine Gruppe von Leuten. Um Punkt fünf Uhr weht eine hagere, groß gewachsene Gestalt aus dem anliegenden Haus auf uns zu. Es ist eine Frau um die sechzig, mit weißen Haaren und knallroten Lippen. Mit ihrem knielangen, fließenden Samtgewand, Pagenschnitt und riesigen Ohrringen sieht sie aus, als hätte sie sich gerade von einer Party in den 1920er Jahren zu uns verirrt.
    „Kommen Sie mit“, sagt sie unwirsch, ohne uns zubegrüßen. „Eintrittskarten kosten vier Pfund, aber eine kleine Zugabe halten wir für sehr angebracht.“ Mit Blick auf meine Kamera fügt sie hinzu: „Und wenn Sie fotografieren wollen, sind das noch mal zwei Pfund extra. Aber bitte beschränken Sie das Fotografieren auf einige Bilder.“
    Meinen entsetzten Blick bemerkend erklärt sie: „Schließlich ist dies eine Ruhestätte und nicht der Eiffelturm.“ Ich trenne mich also widerstrebend von sechs Pfund und folge dem Rest der Gruppe durch die dicken Tore in das Gestrüpp des Westfriedhofes.
    „Und hier ist Harry, der Ihr heutiger Führer sein wird.“
    Harry ist zu meiner Überraschung ein junger Mann Mitte zwanzig, der in diesen Verfall und Moder gar nicht reinzupassen scheint. Er ist schick gekleidet, strömt bei jeder Bewegung Parfumwolken aus und redet theatralisch. Jedes seiner Worte klingt, als wäre es von höchster Bedeutung.
    „Ladies and Gentlemen“ , er schaut von einem zum anderen und lächelt uns charmant an. „Ladies and Gentlemen.“ Eine lange Pause. „Welcome.“
    „Gott, ich habe das Gefühl, diese Führung wird lange dauern“, flüstert Elli mir zu.
    „Ich
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