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Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon
Autoren: Sylvia Roth
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Touristen in die Sonne gelegt und das Meer, das hier so ruhig wie ein See ist, betrachtet – aber auch die großen Hotelkomplexe, in denen die Touristenmassen sich nachts aufhalten und mit denen der Charme der Algarve für immer zerstört ist. Wir haben Orte aus Tiagos Kindheits-Sommerferien aufgesucht – „Diesen Baum hier habe ich gepflanzt, da war ich sieben. Schau, wie groß er jetzt ist!“ –, haben abends mit Tiagos Großmutter im Garten gesessen und Karten gespielt. Und wir haben sie fotografiert, obwohl sie sich mit den Worten wehrte: „Ich bin nicht mehr hübsch, habe keine Zähne mehr, nur noch Falten.“ Wunderschöne Erinnerungsfotos sind es geworden von Doña Fernanda und ihren Hühnern – den Hühnern, die nun ohne Schwein leben.
    Jetzt bin ich wieder in der Zivilisation, zurück im brütend heißen Lissabon. Der einzige Ort, an dem es kühl ist, ist der Palast, dessen dicke Mauern nicht einmal im Sommer die Hitze gestatten. Heute wird es sogar noch schattiger, denn wir bauen eine Dunkelkammer für eine Masterclass, die in den kommenden zwei Tagen unter Anleitung eines brasilianischen Fotografen, Marcio, stattfinden soll. In einem Saal des Kellers, der direkten Zugang zum Garten hat, hängen wir die Fenster mit dickem schwarzen Molton ab, bis kein Fünkchen Licht mehr Zugang findet, und bauen einen großen Tisch auf, auf dem alle nötigen Chemikalien und Hilfsmittel ausgebreitet werden. Marcio will sich in seinem Workshop einer historischen Methode widmen, dem „Colódio“, dem Kollodium-Nassverfahren aus dem 19. Jahrhundert. Die Kameras, die er verwendet, sind zwar neu, die Vorgehensweise aber nicht. Glasplatten werden gereinigt, mit Kollodium befeuchtet, in eine Silbernitratlösung gegeben und in die Kamera gesteckt. Dann muss schnell fotografiert werden – solange die Platte feucht ist. Also ab in den Garten, Porträts schießen von den Kollegen vor den Ulmen, der Fontäne und dem halb zerbrochenen Brunnen oder vor den pastoralen, blau-weißen Azulejos. Und dann zurück in die Dunkelkammer, um die Fotos zu entwickeln. Die Ergebnisse sind verblüffend: Die Gesichter wirken sehr weich, die Übergänge in den Konturen sind fließend, die Ränder auch. Die Bilder sehen aus, als seien sie ein wenig verschmutzt. Und irgendwie vergilbt. Eben so, als stammten die Menschen, die darauf zu sehen sind, aus früheren Zeiten.
    Mitten in die Kollodium-Wannen und unsere konzentrierte Dunkelkammer-Atmosphäre hinein schwappt plötzlich das Gerücht, dass sich in den beiden oberen Stockwerken gerade ein Millionär die neue Ausstellung anschaut,die wir vor vier Wochen eröffnet haben. Unseren neugierig zum Spionieren herangeeilten Blicken kann der vermeintliche Krösus nicht standhalten, viel zu unscheinbar kommt er daher, doch der Chef ist überzeugt davon, dass gerade viel Geld und somit ein potenzieller Kunstkäufer durch die Säle streift. Per Flüsterpost trägt sich also von Mitarbeiter zu Mitarbeiter, dass wir möglichst zuvorkommend zu dem Herrn sein sollen, weswegen wir sofort zur Stelle sind, wenn er eine Frage zu den Werken hat, gerne und freundlich Auskunft geben, ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen, während er sich die Bücher auf dem Büchertisch anschaut, alle gemeinsam die Daumen drücken, als er sich lange mit dem Chef unterhält. Und schließlich Luftsprünge machen, als er tatsächlich zwei Arbeiten kauft – eine davon von Marcio, dem brasilianischen Fotografen, der vor Freude strahlt, ehe er wieder vom Schwarz seiner frisch gebauten Dunkelkammer verschluckt wird.
    ✽✽✽
    Wenige Tage später sehe ich den Millionär wieder. Leider nur im Vorübergehen, nahe des Teatro da Trindade im Chiado, das, changierend zwischen Pink und Karmesinrot, die Fensterrahmen weiß, aus der Häuserfassade heraussticht. Am heutigen Sonntagnachmittag will ich mir eine Tanzperformance anschauen – in der kleinen Black Box des Theaters, die als Labor für experimentelle Versuche junger Künstler dient.
    Das Foyer empfängt mich mit hellblauen Wänden, goldenen Ornamenten und herrlich geschwungenen Treppen. „Que lindo, este teatro, wunderschön“, lächle ich dem Kartenabreißer zu, der sich noch ein Zigarettchen gönnt, ehe die Besucher eintreffen. „Sim, é. Mas tem uma história curiosa.Aber es hat eine eigenartige Geschichte.“ Perfekt gesetzt, dieser Satz. Mir scheint, hinter diesem Kartenabreißer steckt ein Erzähler – er weiß, wie man Fährten legt und Neugierde weckt. „Hat es?“, frage
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