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Ein Herzschlag bis zum Tod

Ein Herzschlag bis zum Tod

Titel: Ein Herzschlag bis zum Tod
Autoren: Sara J. Henry
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ich ihn. Etwas flackerte in seinen dunklen Augen auf. Dann wurden sie wieder ausdruckslos.
    »
Je n’saispas «
, murmelte er und zog die Wörter zusammen. Er wusste nicht, wie er hieß?
    »
Tu ne parles pas anglais
?« Er schüttelte den Kopf. Er konnte kein Englisch.
    Ich wühlte in der Tasche und holte ein Sweatshirt hervor, ähnlich dem, in das er eingewickelt gewesen war. Dazu ein T-Shirt , das in der Wäsche eingelaufen war, und eine Adidas-Jacke mit kaputtem Reißverschluss.
    |17| »
Lève les bras, s’il te plaît
«, sagte ich. Er hob gehorsam die Arme, und ich zog ihm den nassen Pullover aus. Und auf einmal lief vor meinen Augen ein Film ab: Ich sah, wie ich ihm im Wasser das nasse Sweatshirt über den Kopf zerrte, und ich sah deutlich, was ich bis jetzt verdrängt hatte: die Ärmel des Sweatshirts waren fest um seinen Körper gewickelt und zu einem engen Knoten gezurrt.
    Auf dem langen Weg zum Ufer hatte ich mir seine Eltern vorgestellt: gut gekleidet, attraktiv, sie hatten ihn friedlich schlafend auf dem Rücksitz ihres topmodernen Autos zurückgelassen – eckig und sicher, vielleicht ein Volvo   –, während sie im Aufenthaltsraum Kaffee getrunken hatten, ohne zu ahnen, dass sich ihr Kind aus dem Auto schleichen und über Bord fallen würde. Ich hatte sie mir am Fähranleger vorgestellt, umgeben von Polizei und Küstenwache und Tauchern, die Mutter außer sich, tränenüberströmt, der Vater schroff und zornig vor Angst und Sorge. Dann die Mischung aus Hysterie und Dankbarkeit, wenn sie ihren Sohn sicher in die Arme schlossen.
    Doch am Anleger war niemand. Keine Eltern, keine Polizei, keine Küstenwache. Und ich konnte nicht länger verdrängen, dass jemand ein Sweatshirt um das Kind geknotet und es in den See geworfen hatte, damit es ertrank.

|18| 3
    Ich begann in einer Mischung aus Englisch und Französisch zu plappern, als redete ich einem verletzten oder verängstigten Hund gut zu. Ich sagte, was mir gerade in den Sinn kam. Dabei zog ich dem Jungen mein altes T-Shirt über den Kopf und schob seine dünnen weißen Arme hinein. Dann half ich ihm in die Jacke, als würde ich eine Puppe anziehen.
    Ich streifte ihm die durchweichten Turnschuhe ab und meine dicken Wollsocken über und zog sie bis über die Jeans, damit sie nicht rutschten. Meine Finger waren taub vor Kälte. Ich hatte keine Hose, die ihm gepasst hätte, und wickelte ihm daher ein Handtuch um die Jeans. Dann trug ich ihn auf den Beifahrersitz. Ich holte den Schlafsack mit der Wattefüllung, den ich seit der eisigen Nacht in der Hütte immer dabeihatte, und stopfte ihn rund um den Jungen fest. Er sagte kein Wort. Nur handeln, bloß nicht nachdenken.
    Es war niemand in der Nähe. Allerdings hätte meinetwegen auch das gesamte Footballteam von Saranac Lake zuschauen können, als ich mir Windjacke und T-Shirt vom Körper riss, das Kapuzensweatshirt überstreifte, aus meinen Shorts stieg und eine alte Jogginghose anzog – so kalt war mir. Der trockene Stoff fühlte sich wunderbar auf der Haut an. Ich warf unsere nassen Kleider in den Kofferraum, stieg ein und ließ den Motor an. In meinem Schlafsack sah der Junge noch kleiner aus. Er ließ mich nicht aus den Augen.
    Der Motor summte. Ich schaltete die Heizung ein.
    Was sagt man zu einem kleinen Jungen, der soeben von |19| einem Schiff geworfen worden ist, der weder weint noch einem erzählen will, was passiert ist? »
Je m’appelle Troy
«, sagte ich schließlich. Ich spürte, wie er sich ein wenig entspannte, und begriff erst jetzt, wie verkrampft er gewesen sein musste.
    »Trrroy«, wiederholte er sanft.
    Ich weiß, es ist ein komischer Name für ein Mädchen. Meine Schwestern heißen Suzanne und Lynnette, Namen, die zu Südstaatenschönheiten passen, aber als mein Bruder und ich geboren wurden, waren meiner Mutter wohl die Ideen ausgegangen. Also benannte unser Vater uns nach Figuren aus seinen Lieblingskrimis   – Simon aus der
Simon-Templar -Reihe
und mich nach Troy, der Frau des Polizisten aus den Krimis von Ngaio Marsh. Mir gefiel die Figur, nach der ich benannt war: schlank, nachdenklich, anmutig, eine begabte Malerin und gute Menschenkennerin. Allerdings habe ich mich immer gefragt, ob meine Mutter mich lieber gemocht hätte, wenn ich eine Christina, Sharon oder Jennifer gewesen wäre.
    Ich glaubte nie und nimmer, dass der Junge seinen Namen nicht wusste. Er wollte ihn mir nur nicht sagen.
    »
Qu’est-ce qui s’est passé sur le bateau?
«, fragte ich.
    Er zuckte mit den
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