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Ein gutes Herz (German Edition)

Ein gutes Herz (German Edition)

Titel: Ein gutes Herz (German Edition)
Autoren: Leon de Winter
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erklärte.
    Es waren auch noch andere Leute da, die mit offenem Mund zuschauten, verstört, aber auch genüsslich. Endlich passierte mal was in Amsterdam-Ost. Da lag Theo auf dem Gehweg einer schmuddligen Straße. Hatte nichts Großes, diese Straße. War keine Champs-Elysées, kein Trafalgar Square, kein Unter den Linden. Eine farblose Straße mit tristem Gehwegpflaster in einem charakterlosen Viertel, bewohnt von laxen Studenten, subventionierten Künstlern und salarymen, wie man solche Vertreter in Japan nennt, Männer, die mit abgewetzter Aktentasche am Lenker zu ihren hellgrauen Schreibtischen voller Ordner und Stempel und getrockneten Krümeln von den Butterbroten des vorigen Tages radeln.
    Wenn er noch am Leben gewesen wäre und davon hätte erzählen können, hätte er gesagt: Wenn das einem anderen zugestoßen wäre, hätte ich Boujeri um ein Autogramm gebeten. Endlich geht mal was ab.
    Sein Leben lang war er ein Sprücheklopfer gewesen, und im Moment der Momente hatte man ihn mundtot gemacht. Doch er sah alles. Boujeri ging seelenruhig davon beziehungsweise versuchte, Haltung zu bewahren, aber er war berauscht. Er hatte einen Menschen getötet. Er hatte es getan. Für seinen Wüstengott hatte er die ultimative Tat vollbracht. Nun würden ihn zweiundsiebzig Jungfrauen willkommen heißen. In Erwartung eines immerwährenden Orgasmus bekam er eine Erektion. Verdammt, er entfernte sich mit einem Ständer in der Hose von Theo, augenscheinlich ohne Eile, ohne Sorgen. Er wurde allerdings unruhig, als er die Blicke eines Passanten auf sich fühlte. Die Erregung schwand, und er sah den Mann herausfordernd an.
    Boujeri rief: »Was guckst du?«
    Der Passant war zwar ein bescheidener Salaryman, aber er traute sich, einen Kommentar abzugeben: »Das kannst du doch nicht machen!«
    So sagte ein Amsterdamer das. Der rief nicht: Du Schuft, du Nichtswürdiger, du Teufel! Nein, der rief: »Das kannst du doch nicht machen«, als ginge es um einen Akt von Vandalismus, der ihn irritierte.
    Theo hörte, wie Boujeri ohne den geringsten Zweifel entgegnete: »Und ob ich das kann! Er hat es sich selbst zuzuschreiben!«
    Der Salaryman: »Das geht doch nicht, das kannst du doch nicht machen!«
    Boujeri: »Und ob ich das kann! Und damit wisst ihr auch gleich, was euch erwartet.«
    Das ließ den Zuschauer verstummen. Und Boujeri machte sich aus dem Staub. Theo begleitete ihn, schwerelos, ein paar Meter hinter und über ihm, wie ein Luftballon, den Boujeri an einer Schnur mitzog.
    Das Adrenalin schoss durch Boujeris Adern und heizte seinem Herzen ein. Er rannte in den Oosterpark, während sich die Straßen elektrisch aufzuladen schienen, als setze dieses Attentat die Stadt unter Strom. Von allen Seiten tauchte Polizei auf. Mit Autos, mit Motorrädern. Überall Sirenen. Blaulicht. Alles für Mohamed B. Alles für Theo.
    Unsichtbar war Theo dort anwesend, registrierte alles, hörte alles und konnte sich nicht vorstellen, dass er dieses wahnwitzige Abenteuer nicht anschließend mit seinen Freunden besprechen würde, ein Päckchen Gauloises in Reichweite, vielleicht ein bisschen Koks in der Nase und eine oder zwei Flaschen Bordeaux im Blut. Er schwebte zwischen den Bäumen. Komische Perspektive. Gute Kran-Shots. Er würde bald in einem Krankenhausbett aufwachen und durfte nicht vergessen, sich das alles zu notieren. Er tastete nach Stift und Papier, fühlte aber nichts. Er hatte ja keine Hände! Die Angst schlug bei ihm ein, und er dachte, er würde abstürzen, aber er schwebte weiterhin und blickte auf diesen jungen Bartaffen mit der Waffe in der Hand hinunter.
    Boujeri begann, wild um sich zu schießen. Die Polizei erwiderte das Feuer. Die Schüsse klangen weniger echt als auf dem Geräuschband eines Films. Boujeri war völlig ungeschützt, während er schoss. Offenbar hoffte er, dass sie ihm mit einer Salve den Kopf zerfetzen würden. Oder das Herz. Aber der Gnadenschuss blieb aus. Schreiend fiel Boujeri zu Boden, als er ins Bein getroffen wurde.
    Die Niederlande gedachten ihres Helden des freien Wortes. Tausende von Menschen versammelten sich auf dem Dam, um ihm und seiner freien Meinungsäußerung die Ehre zu erweisen. Nichts gegen so eine Gedenkveranstaltung, aber der Platz war voller Kleingeister. Eine Farce. Was hatte er mit freier Meinungsäußerung zu tun? Wie sie da alle rumstanden und heilig taten. Theo hatte nichts mit freier Meinungsäußerung am Hut gehabt. Er log, manipulierte, ätzte, beleidigte, pöbelte, schimpfte, betrog,
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