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Ein gutes Herz (German Edition)

Ein gutes Herz (German Edition)

Titel: Ein gutes Herz (German Edition)
Autoren: Leon de Winter
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verriet – und es tat ihm gut. Sein Widerwille gegen alles Mittelmäßige war so groß, dass er es als seine Pflicht empfand, die Beleidigung zur Kunstform zu erheben. Er wollte sich abreagieren. Zetern. Fluchen. Er hasste die mittelmäßige Menschheit. Warum hassten die anderen sich nicht genauso sehr, wie er sich hasste? Feige Hunde. Sie hatten Schiss davor, mit Molotowcocktails in der Hand gegen die Moscheen aufzumarschieren.
    Nach seiner Ermordung wurde Theo von etwas davongetragen, was sich als »der Wind« bezeichnen ließ, und er kam hier an. Es war eine Reise durch die Dimensionen, durch alle Universen. Er war in diesem Orkan aus Luft und Licht und Destruktion und Konstruktion außer Bewusstsein. Nichts war er, und doch erlebte er Geburt und Tod und Verfall und Wiederauferstehung.
    Nach einer Reise, die keine Zeit kannte, gelangte er in eine Umgebung, die er am ehesten als Kaserne beschreiben konnte.
    Grau wie Amsterdam an einem Novembertag. Nein, eingesperrt war er nicht. Es stand ihm frei, sich unten umzusehen. Aber er konnte nicht in die nächste Phase weiter, wie sie es hier nannten.
    Die nächste Phase.
    Man bekam einen Berater zugewiesen, der alles mit einem durchsprach und einem dabei half, die nächste Phase zu erreichen. Theo hatte schon ein Dutzend Berater verschlissen. Männer, Frauen, klug, dumm, sie gaben rasch auf, die Waschlappen.
    Theo hockte hier nun seit November 2004 – ja, auch hier gab es die Zeit, ohne die Zeit gäbe es nichts, hatte der neue Berater (der sich scherzhaft »Bewährungshelfer« nannte) erklärt. Er war Schwarzamerikaner, und Theo kam ganz gut mit ihm aus.
    Seit einigen Monaten tat es weh, nach unten zu gehen, so paradox das auch klingen mochte. Man sollte meinen, dass man sich, wenn man mal eine Weile hier oben war, von Tag zu Tag (ja, Tage gab es hier auch) immer besser mit dem Totsein abfand. Aber dem war nicht so. Es wurde immer schmerzlicher, seinen Sohn zwar beobachten, ihn aber nicht berühren, ihm nicht sagen zu können, dass er ihn liebte und vermisste. Wenn er in eine nächste Phase gelangte, würde sich der Schmerz derart intensivieren, dass er sein Kind vermutlich loslassen musste. Dann wäre er noch toter als tot.
    Theo schaute, wenn er unten war, auch regelmäßig nach seinem Mörder. Boujeri betete und betete in seiner Zelle. Las den Koran. Las die Geschichten über den Propheten. Und dachte, er sei auf dem Weg zu Allah und den Jungfrauen. Quatsch. Boujeri war ein Sünder, und das lastete man ihm hier oben an. Das wurde garantiert bestraft.
    Theo wurde keineswegs seinem Schicksal überlassen. Wo er jetzt war, hatte »Schmerzbewältigung« einen hohen Stellenwert. Allein schon das Wort wäre ihm sauer aufgestoßen, wenn er denn noch einen Magen gehabt hätte. Aber er hatte keinen Körper mehr. Er hatte nur noch seinen entwurzelten Kopf. Dank dieses Scheißmarokkaners.
    Seines Kopfes war er sich bewusst, der Rest schien zu fehlen. Ob der Körper wieder vollständig sei oder nicht, hänge davon ab, ob man es verdient habe, war ihm gesagt worden, als er sich beschwert hatte. Manche Menschen, die mit dem Auto verunglückt oder bei irgendeinem anderen Unfall verstümmelt worden seien, kämen völlig intakt und in einem Stück herein. Weil sie es gemäß den Vorschriften verdient hätten. Und ich?, wollte Theo wissen. Was habe ich denn Schlimmes getan, dass ich meinen Körper nicht erfahren kann?
    Sie hatten geantwortet: Sobald du das weißt, wird sich eine Lösung auftun. Mit anderen Worten, sie reagierten wie alte Moralapostel, wie ungnädige Eltern, die ihrem halbwüchsigen Sprössling eine Lektion in Bescheidenheit erteilten.
    Jetzt, da er hier oben war und es ihm als Regisseur oder Schriftsteller nichts mehr einbrachte, war Theo weltberühmt. In Hollywood war sein Name jedermann ein Begriff. In Tokio, Mumbai, Jerusalem, Rom, Buenos Aires, überall wusste man, wer er war – weil ein anonymer Scheißmarokkaner ihn umgebracht hatte.
    Er wäre natürlich lieber anders berühmt geworden. Er war ein couragierter, wenn auch nie sonderlich populärer Filmregisseur gewesen und hatte nie publikumswirksames Unterhaltungsfutter gemacht wie ein Paul Verhoeven. Nein, er war in dem Zwergenland, zu dem ihn der Zufall seiner Geburt verurteilt hatte, immer ein unverstandener Künstler geblieben.
    Wenn er von dort, wo er sich jetzt befand, auf sein Leben zurückblickte, erschien ihm seine Schwärmerei für das schwärzeste Schwarz als totaler Stuss. Eindimensionale Lieder
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