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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr
Autoren: Jojo Moyes
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Wenn ich das mache, verliere ich mein Arbeitslosengeld, stimmt’s?»
    «Wenn Sie nicht für eine Stelle zur Verfügung stehen, genau.»
    Wir schwiegen einen Moment. Ich sah zur Tür, an der zwei kräftige Wachmänner standen, und überlegte, ob sie ihre Stelle über das Jobcenter gefunden hatten.
    «Ich bin nicht gut, was alte Leute angeht, Syed. Mein Großvater wohnt seit seinem Schlaganfall bei uns, und ich bin eine Null bei seiner Betreuung.»
    «Ah. Dann haben Sie also etwas Erfahrung in der Pflege.»
    «Nein, eigentlich nicht. Das macht alles meine Mum.»
    «Sucht denn Ihre Mum einen Job?»
    «Sehr lustig.»
    «Das sollte kein Witz sein.»
    «Sodass ich mich um Großvater kümmern müsste? Nein danke. Er würde das übrigens genauso sehen. Haben Sie überhaupt nichts in einem Café?»
    «Ich fürchte, es gibt hier kaum noch ein Café, in dem Sie arbeiten könnten, Louisa. Vielleicht probieren wir es mal bei Kentucky Fried Chicken . Vielleicht kommen Sie dort besser zurecht.»
    «Weil es einen Riesenunterschied macht, ob man Party Buckets oder Chicken McNuggets verkauft? Nein, das ist nichts für mich.»
    «Dann müssen wir wohl in einem größeren Umkreis suchen.»
    «Es gibt am Tag nur vier Busverbindungen in unsere Stadt. Das wissen Sie doch. Und ich weiß, dass Sie gesagt haben, ich könnte auch mit den Touristenbussen fahren, aber ich habe dort angerufen, und bei denen fährt der letzte Bus um 17 Uhr. Außerdem ist er doppelt so teuer wie der normale Bus.»
    Syed lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. «Ich muss Sie an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Sie als gesunde und einsatzbereite Person für den weiteren Erhalt Ihrer Arbeitslosenunterstützung unter Beweis stellen müssen …»
    «… dass ich mich um eine Stelle bemühe. Ich weiß.»
    Wie konnte ich diesem Mann nur beibringen, wie dringend ich arbeiten wollte? Hatte er die geringste Vorstellung davon, wie sehr ich meinen alten Job vermisste? Arbeitslosigkeit war für mich bislang nur ein abstrakter Begriff aus den Nachrichten gewesen, wenn mal wieder darüber berichtet worden war, dass in Werften oder Autofabriken Stellen gestrichen wurden. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass einem die Arbeit genauso fehlen kann wie ein Arm, den man bei einem Unfall verloren hatte – und an den man ständig denken musste. Und genauso wenig hatte ich darüber nachgedacht, dass der Verlust des Jobs, abgesehen von den offensichtlichen Sorgen um das Geld und die Zukunft, auch dazu führte, dass man sich unfähig und nutzlos fühlte. Dass es schwerer war, morgens aufzustehen, wenn einen nicht der Wecker brutal aus den Träumen riss. Dass man die Leute vermisste, mit denen man gearbeitet hatte, ganz gleich, wie wenige Gemeinsamkeiten man mit ihnen hatte. Oder dass man sich dabei ertappte, wie man nach bekannten Gesichtern Ausschau hielt, wenn man die Hauptstraße entlangging. Einmal hatte ich die Pusteblumen-Lady entdeckt, die genauso ziellos wie ich an den Schaufenstern entlanggebummelt war, und ich hatte den Impuls unterdrücken müssen, zu ihr zu gehen und sie zu umarmen.
    Syeds Stimme unterbrach meine Gedanken. «Aha. Also das könnte passen.»
    Ich versuchte, einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen.
    «Ist eben reingekommen. In dieser Minute. Eine Stelle als Pflegehilfe.»
    «Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich mit alten …»
    «Es geht nicht um alte Leute. Die Stelle ist in einem Privathaushalt, und zwar keine zwei Meilen von Ihnen entfernt. ‹Pflege und Gesellschaft für behinderten Mann›. Haben Sie einen Führerschein?»
    «Ja. Aber müsste ich ihm den Hintern …»
    «Davon steht hier nichts, soweit ich sehe.» Er las die Anzeige durch. «Es ist ein … Tetraplegiker. Er braucht tagsüber jemanden, der ihn füttert und ihn unterstützt. Bei diesen Stellen geht es häufig darum, dass jemand da ist, wenn sie aus dem Haus wollen, und der ihnen mit den grundlegenden Dingen hilft, die sie selbst nicht machen können. Oh. Die Bezahlung ist gut. Liegt ziemlich weit über dem Mindestlohn.»
    «Was vermutlich daran liegt, dass Hinternabwischen doch dazugehört.»
    «Ich rufe dort an und kriege das raus. Aber wenn es nicht der Fall sein sollte, würden Sie dann zum Bewerbungsgespräch gehen?»
    Das sagte er, als wäre es eine Frage.
    Aber wir kannten die Antwort beide ganz genau.
    Seufzend nahm ich meine Tasche, um mich auf den Heimweg zu machen.

    «Meine Güte», sagte mein Vater. «Kann man sich so etwas vorstellen? Als ob es nicht schon
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