Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr
Autoren: Jojo Moyes
Vom Netzwerk:
sehr … geschäftsmäßig aus.»
    Das Peinliche war nicht, dass ich das Kostüm meiner Mutter trug oder dass sein Schnitt das letzte Mal in den späten Achtzigern Mode gewesen war, sondern dass es mir ehrlich gesagt ein winziges bisschen zu eng war. Der Bund schnitt mir in die Taille, und das doppelreihig geknöpfte Jackett spannte. Dad sagt von Mum immer, an ihr sei weniger Fett als an einer Haarklammer.
    Auf der kurzen Busfahrt war mir leicht übel. Ich hatte noch nie ein richtiges Bewerbungsgespräch geführt. Im Buttered Bun war ich gelandet, nachdem Treena gewettet hatte, dass ich niemals innerhalb eines Tages einen Job finden würde. Also war ich einfach in das Café gegangen und hatte Frank gefragt, ob er eine Aushilfe brauchte. Er hatte gerade erst eröffnet und war beinahe in die Knie gegangen vor Dankbarkeit.
    Im Rückblick kommt es mir so vor, als hätten wir nie über Geld geredet. Er schlug mir einen Wochenlohn vor, und ich nahm den Vorschlag an, und einmal im Jahr erhöhte er den Betrag, und zwar um ein bisschen mehr, als ich gefordert hätte.
    Was wurde man bei einem Bewerbungsgespräch gefragt? Und was war, wenn sie mich in der Praxis testen wollten, wenn ich diesen alten Mann füttern oder baden sollte? Syed hatte gesagt, es gebe einen Pfleger, der sich um die ‹intimen Bedürfnisse› kümmere (ich erschauerte bei diesem Ausdruck). Die Aufgabenbeschreibung der Pflegehilfe, sagte er, sei ‹in dieser Hinsicht ein bisschen unklar›. Ich stellte mir vor, wie ich dem Alten Speichel von den Mundwinkeln wischte und dabei mit erhobener Stimme fragte: «MÖCHTE ER EINE TASSE TEE?»
    Mein Großvater hatte in der ersten Zeit nach seinem Schlaganfall überhaupt nicht für sich sorgen können, und Mum hatte seine gesamte Pflege übernommen. «Deine Mutter ist eine Heilige», hatte Dad gesagt, und ich schloss daraus, dass sie Großvater den Hintern abwischte, ohne schreiend aus dem Haus zu rennen. Ich war ziemlich sicher, dass mich nie jemand eine Heilige genannt hatte. Ich schnitt für Großvater das Essen vor und kochte ihm Tee, aber ich glaubte, für alles andere fehlte mir irgendein Gen.
    Granta House lag mitten im Touristengebiet auf der anderen Seite von Stortfold Castle ganz in der Nähe der mittelalterlichen Burgmauern. Dort standen nur vier Häuser und der Museumsshop. Ich war schon eine Million Mal an diesem Haus vorbeigegangen, ohne es je richtig wahrzunehmen. Als ich jetzt am Parkplatz und an der Miniatur-Eisenbahn vorbeikam, die so trostlos und verlassen wirkte, wie es nur eine Sommerattraktion im Februar kann, wurde mir klar, dass das Haus viel größer war, als ich gedacht hatte. Es war ein roter Backsteinbau mit einer riesigen Eingangstür, genau die Art Haus, die man im Wartezimmer eines Arztes in alten Nummern von Country Life sah.
    Ich ging die lange Auffahrt hinauf und versuchte, nicht darüber nachzudenken, ob mich hinter einem der Fenster jemand beobachtete. Eine lange Auffahrt hinaufzugehen, versetzt einen in die schlechtere Position; man fühlt sich automatisch unterlegen. Ich überlegte gerade, ob ich mir den Pony zurechtzupfen sollte, als die Tür aufging und ich vor Schreck beinahe einen Satz machte.
    Eine Frau, nicht viel älter als ich, trat auf die Veranda. Sie trug weiße Hosen und eine Art Pflegerkittel und hatte eine Bewerbungsmappe und einen Mantel unter dem Arm. Als sie an mir vorbeiging, lächelte sie mir höflich zu.
    «Und vielen Dank, dass Sie gekommen sind», sagte eine Stimme aus dem Haus. «Wir melden uns.» Dann tauchte das Gesicht einer Frau auf. Sie war mittleren Alters, aber sehr schön, und hatte einen teuren, akkuraten Haarschnitt. Ihr Hosenanzug hatte vermutlich mehr gekostet, als mein Vater im Monat verdiente.
    «Sie müssen Miss Clark sein.»
    «Louisa.» Ich streckte ihr die Hand entgegen, wie es mir meine Mutter eingeschärft hatte. Die jungen Leute heutzutage wollten niemandem mehr die Hand geben, da waren sich meine Eltern einig. Früher hätte man nicht im Traum daran gedacht, sich mit einem «Hey» oder, schlimmer, mit Küsschen zu begrüßen. Diese Frau sah definitiv nicht so aus, als wollte sie von mir geküsst werden.
    «Gut. Ja. Bitte, kommen Sie herein.» Sie zog ihre Hand so schnell zurück, wie es die Höflichkeit erlaubte, aber ich spürte ihren abschätzenden Blick auf mir.
    «Bitte, es geht hier entlang. Wir unterhalten uns im Salon. Ich bin Camilla Traynor.» Sie wirkte erschöpft, so als hätte sie diese Worte heute schon oft gesagt.
    Ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher