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Ein froehliches Begraebnis

Ein froehliches Begraebnis

Titel: Ein froehliches Begraebnis
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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wollte nicht mit den anderen fotografiert werden, das wußte sie nun.
    Sie ging zum Hudson, bog dann zur Fähre ab und dachte die ganze Zeit an den einzigen normalen Erwachsenen, der nun starb, als wolle er sie damit ärgern, um sie wieder mit diesen ganzen Idioten allein zu lassen: Russen, Juden und Amerikanern, von denen sie seit ihrer Geburt umgeben war.

3
    M it Aliks Sehvermögen ging etwas Sonderbares vor sich: Es ließ nach und wurde zugleich schärfer. Alles wurde ein wenig größer und veränderte seine Dichte. Die Gesichter seiner Freundinnen verschwammen plötzlich, und die Gegenstände zerflossen leicht, doch dieses Zerfließen war eher angenehm und setzte zudem die Gegenstände in ein neues Verhältnis zueinander. Eine Ecke des Raumes wurde aufgeschnitten von einem einzelnen alten Ski, die weißen Wände strebten vor ihm rasant zu beiden Seiten auseinander. Diese Dynamik der Wände wurde gedämpft von der Figur einer Frau, die im Schneidersitz auf dem Boden saß, den Kopf an die Wand gelehnt. Der ruhigste Teil des Bildes war der Punkt, an dem der Kopf der Frau die Wand berührte.
    Jemand hatte die Jalousie ein Stück hochgezogen, Licht fiel auf die dunkle Brühe in den Flaschen, und sie leuchtete grün und dunkelgolden. Die Flaschen waren unterschiedlich voll, und in diesem Flaschenxylophon erkannte Alik plötzlich seinen Jugendtraum wieder. Damals hatte er viele Stilleben mit Flaschen gemalt. Tausende Flaschen. Vielleicht mehr, als er geleert hatte. Nein, geleert hatte er doch mehr. Er lächelte und schloß die Augen.
    Aber die Flaschen blieben: Als verblaßte, undeutliche Säulen standen sie hinter seinen Lidern. Er erkannte, daß das wichtig war. Seine Gedanken krochen träge und riesig dahin, wie eine schwammige Wolke. Diese Flaschen, Flaschenrhythmen. Er hörte doch Musik. . . Skrjabins Farbenmusik war, wie sich bei näherer Betrachtung herausstellte, nichts als Bluff, mechanistisch und häßlich. Alik hatte sich damals mit Optik und Akustik beschäftigt. Doch auch mit diesem Schlüssel war er nicht weitergekommen. Seine Stilleben waren nicht eigentlich schlecht, aber völlig beliebig. Zudem kannte er Morandi damals noch nicht.
    Nun waren diese Stilleben in alle Winde verweht, keins war ihm geblieben. Irgendwo in Piter (umgangssprachlich für Petersburg) gab es vielleicht noch ein paar bei Freunden von damals oder bei den Kasanzews in Moskau. Mein Gott, wie hatten sie damals gesoffen. Und fleißig Flaschen gesammelt. Die normalen gaben sie bei der Sammelstelle ab, aber alte oder ausländische, aus farbigem Glas, die hoben sie auf.
    Auch die, die damals auf dem Dach standen, in der Dachrinne, waren aus dunklem Glas, tschechische Bierflaschen. Wer sie dort hingestellt hatte, wußte hinterher keiner mehr. Von Kasanzews Küche aus führte eine niedrige Tür ins Zwischengeschoß, und dort gab es ein Fenster zum Dach. Aus diesem Fenster hinaus flatterte Irina aufs Dach. Das war nichts Besonderes – auf diesem Dach wurde ständig herumgelaufen, getanzt und sich gesonnt. Irina rutschte auf dem Hintern die Schräge runter, und als sie aufstand, waren auf ihrer weißen Jeans zwei deutliche dunkle Spuren. Sie stand ganz am Rande des Daches, das wundervolle, leichtfüßige Mädchen. Gott hatte sie und Alik für die erste Liebe zueinander geführt, und sie taten alles redlich, bis der Himmel dröhnte.
    Nachdem Irina von ihrem strengen Großvater, der aus einem alten Zirkusgeschlecht stammte, aus der Truppe geworfen wurde, weil sie mit Alik für zwei Tage nach Piter gefahren war und eine Probe versäumt hatte, waren sie in Kasanzews Dachkammer eingezogen und wohnten nun schon drei Monate dort, gemartert von der Last ihres noch immer anwachsenden Gefühls. An jenem Tag kam ein berühmter Jugendbuchautor zu Besuch, sehr erwachsen, mit zwei Flaschen Wodka. Er war sympathisch. Irina hob die Schulter irgendwie anders, sah ihn schräg von unten an, sprach mit tieferer Stimme als sonst, und Alik rügte sie:
    »Warum flirtest du so mit ihm? Das ist vulgär. Wenn er dir gefällt, dann laß ihn ran.«
    Er gefiel ihr tatsächlich.
    »Aber doch nicht so. Oder höchstens ein ganz kleines bißchen«, sagte sie später zu Alik.
    Aber in diesem Augenblick, vor Wut und ob der grausamen Wahrheit seiner Worte, sprang sie aus dem Fenster und rutschte auf dem Hintern zur Dachkante, dann richtete sie sich neben den Flaschen auf, ging in die Hocke – da sah noch niemand zu ihr hin außer Alik – , umfaßte die Hälse der beiden
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