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Ein diplomatischer Zwischenfall

Ein diplomatischer Zwischenfall

Titel: Ein diplomatischer Zwischenfall
Autoren: Agatha Christie
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»Meine Schwiegertochter starb bei Sarahs Geburt. Sarah hat immer bei uns gelebt. Wir haben sie erzogen. Vielleicht haben wir sie falsch erzogen – ich weiß es nicht. Aber wir waren stets der Ansicht, dass wir ihr so viel Freiheit wie möglich lassen sollten.«
    »Das ist eine lobenswerte Einstellung. Man kann nicht gegen den Strom der Zeit schwimmen.«
    »Ja, so ist es. Ich habe dasselbe gedacht. Aber leider machen die Mädchen heutzutage solche Dinge mit.«
    Poirot schaute sie fragend an.
    »Ich glaube«, sagte Mrs Lacey, »man kann es so bezeichnen: Sarah ist in eine Gruppe von jungen Leuten hineingeraten, die ständig in Cafes und Bars herumhocken. Sarah will weder zu Tanzveranstaltungen gehen noch in die Gesellschaft eingeführt werden, noch Debütantin oder irgendetwas in dieser Art sein. Stattdessen wohnt sie in zwei hässlichen Zimmern in Chelsea, unten am Fluss, und trägt jene merkwürdigen Kleider, die diese Leute bevorzugen, und schwarze oder knallgrüne Strümpfe dazu – sehr dicke Strümpfe. Sie müssen furchtbar kratzen, denke ich immer. Außerdem läuft sie mit schmutzigen, ungepflegten Haaren herum.«
    »Das ist heute modern. Das wird sich schon wieder geben.«
    »Ja, ich weiß«, antwortete Mrs Lacey. »Ich hätte mir darüber auch keine Sorgen gemacht, aber jetzt hat sie sich mit diesem Desmond Lee-Wortley eingelassen. Er hat einen ganz schlechten Ruf. Er lebt mehr oder weniger von reichen Mädchen. Anscheinend sind sie völlig verrückt nach ihm. Er hätte beinahe die Tochter der Hopes geheiratet, aber ihre Familie ließ sie unter Amtsvormundschaft stellen. Und Horace will jetzt dasselbe tun. Aber ich halte das für keine gute Idee. Sie werden lediglich einfach nach Schottland, Irland, Argentinien und sonst wohin fliehen und dort entweder heiraten oder eine wilde Ehe führen. Das ist keine Lösung des Problems – und erst recht nicht, wenn ein Baby erwartet wird. Gibt man aber nach und die Einwilligung zur Heirat, folgt mit Sicherheit nach ein, zwei Jahren die Scheidung. Dann kommt das Mädchen wieder nachhause, und einige Zeit später heiratet es ein zweites Mal – dann einen Mann, der so lieb ist, dass er einen langweilt. Das Mädchen kommt schließlich zur Ruhe. Aber nach meiner Meinung sind solche Fälle besonders traurig, wenn ein Kind da ist und wenn ein Stiefvater dessen Erziehung übernimmt, mag er noch so nett sein. Nein, ich glaube, es wäre viel besser, wenn man so handeln würde, wie man es in meiner Jugend tat.«
    »Man glaubt immer, dass die Zeiten früher besser waren«, sagte Poirot leicht dozierend.
    »Natürlich. Ich langweile Sie mit langen Reden, nicht wahr? Das sollte mir eigentlich nicht passieren. Aber trotzdem wünsche ich nicht, dass Sarah – sie ist wirklich ein liebes und gutes Mädchen – diesen Desmond Lee-Wortley heiratet. Sie und David Welwyn – er ist auch hier – waren immer gute Freunde. Sie hatten sich sehr gern. Horace und ich hofften, dass sie heiraten würden, wenn sie das Alter dazu hätten. Leider ist er jetzt völlig Luft für sie, weil sie eben in ihren Desmond verliebt ist.«
    »Madame, wenn ich Sie recht verstanden habe, ist dieser Desmond Lee-Wortley hier. Er wohnt hier?«
    »Ja, das war meine Idee. Horace wollte ihr verbieten, ihn wiederzusehen und so weiter. Am liebsten hätte er wie früher der Vater oder der Vormund mit einer Reitpeitsche bei dem jungen Mann einen Besuch gemacht. Ich sagte ihm aber, dass dies grundverkehrt sei. ›Nein‹, habe ich gesagt, ›lade ihn zu uns ein. Er soll Weihnachten hier in unserer Familie verbringen‹ Natürlich meinte mein Mann, dass ich verrückt sei. Aber ich habe ihm geantwortet: ›Liebling, wir können es jedenfalls einmal versuchen. Sie soll ihn hier in unserem Kreis und in unserem Haus erleben. Wir werden sehr nett und sehr höflich zu ihm sein. Vielleicht erscheint er ihr dann weniger interessant.‹«
    »Madame, ich glaube, Sie haben den Stein der Weisen entdeckt, wie man so sagt. Ihre Einstellung ist sehr klug, davon bin ich überzeugt, jedenfalls klüger als die Ihres Mannes.«
    »Hoffentlich«, entgegnete Mrs Lacey zweifelnd. »Bis jetzt steht der Beweis aus. Aber er ist ja erst seit ein paar Tagen hier.« Plötzlich lächelte sie, und ein Grübchen zeigte sich in ihrer Wange. »Ich muss Ihnen etwas gestehen, Monsieur Poirot. Ich kann mir nicht helfen, er gefällt mir. Damit will ich nicht sagen, dass mir mein Verstand dasselbe sagt, aber ich spüre sehr wohl, dass er Charme hat. O ja, ich
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