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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna
Autoren: Mirjam Pressler
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es Zeit zum Schlafengehen. In den Toiletten und den Waschräumen gab es elektrisches Licht, in den Zelten hatten sie nur Petroleumlampen.
    Als Hannelore ihren Rucksack aufmachte, um ihr Nachthemd herauszuholen, entdeckte sie, dass ihre Mutter ihr heimlich ihr Lieblingsbuch, Andersens Märchen , und einen braunen Umschlag eingepackt hatte. Sie warf schnelle Blicke nach allen Seiten, ob auch keiner das Buch gesehen hatte, für das sie sich genierte. Märchen! Sie war doch kein kleines Kind mehr. Sie schob das Buch tiefer in den Rucksack, hinunter zu den Pullovern.
    In dem Umschlag fand sie zwei Fotos. Von dem einen, das sie noch nie gesehen hatte, blickte ihr ihre Mutter entgegen. Eine lächelnde Mutter, die ihr fremd vorkam. Hannelore konnte sich nicht erinnern, wann sie ihre Mutter lächeln gesehen hatte. Außer wenn einer der seltenen Briefe von Helene kam. Wann hatte ihre Mutter das Foto machen lassen? Extra für sie, nachdem sie erfahren hatte, dass Hannelore nach Dänemark gehen sollte, oder schon früher? Das Bild ihrer lächelnden Mutter berührte sie so sonderbar, dass sie es schnell in den Umschlag zurücksteckte und das andere herausnahm. Es war das Passbild, das Helene letztes Jahr aus Palästina geschickt hatte. Ihre Schwester sah darauf älter aus, als Hannelore sie in Erinnerung hatte, älter und dunkler, und sie hatte ihre Zöpfe abgeschnitten. Mit den kurzen Haaren konnte man sie auf den ersten Blick auch für einen Jungen halten. Auf die Rückseite des Bildes hatte sie geschrieben: Viele Grüße von Eurer Lea. Lea war ihr neuer hebräischer Vorname, mit dem sie auch ihre Briefe unterzeichnete. Hannelore konnte sich an diesen Namen nicht gewöhnen, für sie hieß ihre Schwester weiterhin Helene. Oft dachte sie: Wenn Helene doch nicht weggegangen wäre, und nie: Wenn Lea doch nicht weggegangen wäre …
    »Was ist mit dir, Püppchen«, fragte Mira neben ihr. »Du wirst doch nicht anfangen zu weinen?«
    Da steckte sie das Foto zurück in den Umschlag und zog endlich ihr Nachthemd aus dem Rucksack. Später, als sie im Bett lag, wickelte sie sich fest in ihre Wolldecken und drehte Mira den Rücken zu.
    Das Märchenbuch war, wie sich zeigte, kein Grund, sich zu genieren, denn als Hannelore eines Abends darin las, reagierte Mira ganz begeistert. »Los, lies mir ein Märchen vor.« Sie quetschte sich neben sie auf das schmale Bett und Hannelore las ihr mit leiser Stimme Das hässliche junge Entlein vor. Es war ein langes Märchen. Mira schloss die Augen und schlief mit einem friedlichen Lächeln auf dem Gesicht ein. Hannelore ließ sie schlafen und schlich sich vorsichtig in Miras Bett hinüber. Am nächsten Morgen legte Mira die Arme um sie und gab ihr einen Kuss.
    Moritz übernahm die Gruppe der Jungen, Schula die der Mädchen. Zu den neun Mädchen aus der Ahrensdorfer Hachschara zählten nun auch noch Ruthi und ihre Schwester Towa aus Köln, Doris aus Essen und Bärbel, Betty und Margot aus Düsseldorf. Ruthi und Towa waren fünfzehn und sechzehn, sahen sich aber mit ihren runden Gesichtern, den runden, hellbraunen Knopfaugen und den gleichen krusseligen, braunen Haaren so ähnlich wie Zwillinge, nur dass Ruthi ein bisschen dicker war als ihre ältere Schwester. Doris hatte auffallend schiefe Zähne und Margot war einfach schön. Es war eine andere Art Schönheit als Miras, nicht so dunkel und üppig, sondern blond und zart. Ihre Haut war so hell, dass sie fast durchsichtig wirkte. Beim Unterricht waren die Mädchen und die Jungen oft zusammen und natürlich auch beim Essen, doch bei allen anderen Aktivitäten waren sie getrennt.
    Die nächsten Wochen verliefen wie auf der Hachschara in Ahrensdorf, nur dass sie keine Feldarbeit zu leisten hatten. Dafür bekamen sie mehr Unterricht in Hebräisch und jüdischer Geschichte, in der Geschichte des Zionismus und in Dänisch, obwohl keiner von ihnen besondere Lust dazu hatte, Dänisch zu lernen. Wozu auch, sie wollten nach Palästina, Dänemark, so hofften sie, würde nur eine kurze Zwischenstation für sie sein.
    »Wir Juden müssen dauernd neue Sprachen lernen«, klagte Mira. »Immer müssen wir fliehen und jede Flucht bedeutet eine neue Sprache. Meine Eltern sind von Rumänien nach Russland geflohen, von Russland nach Polen und schließlich von Polen nach Deutschland. Sie sprechen Jiddisch, Rumänisch, Russisch, Polnisch, Deutsch. Nur Hebräisch können sie nicht. Ich spreche Jiddisch, Rumänisch, Deutsch und ein bisschen Hebräisch. Und jetzt soll ich noch
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