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Ein Abend im Club

Ein Abend im Club

Titel: Ein Abend im Club
Autoren: Christian Gailly
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schlimm?, fragte er Anne. Die Wahrheit hatte nur einen kleinen Umweg genommen. Nun war sie fast am Ziel. Anne warf sich ins Gefecht. Oder warf vielmehr ihr Geschoss, um sich dann zu verkrampfen und zu beten, es möge möglichst wenig Schaden anrichten. Und in der Zeitspanne zwischen Abschuss und Aufschlag wartete sie, wie auf eine Explosion, auf Simons Reaktion.
    Diese stieg aus dem Abgrund des Raums empor, in dumpfen, in äußerster Tiefe angeschlagenen Tönen, einem Zen-Grollen nicht unähnlich, das immer höher wurde, ein immer lauter wiederholter Fluch. Bald vernahm Anne grelle, wie gepfiffene Herr-im-Himmels. Und dann wurde es konfus.
    In Paris und am Meer spielte sich in etwa dasselbe, dieselbe Szene ab. Dort, in Paris, Anne in Jamies Armen. Hier, am Meer, Simon in Debbies Armen. Dieselben Trostgesten. Nur dass die innige Umarmung in einem Fall, dem in Paris, legitim war. Am Meer hingegen:
    Sie ist tot, sagte Simon immer wieder in den Armen Debbies, die ihn unmerklich wiegte wie ein Kind: Ist dir das klar? Ich bin bei dir, sagte Debbie, das sagt man ja immer, und nahm ihn noch fester in die Arme.
    Sie war bei ihm, und Suzie lag ganz allein im Leichenkeller des Krankenhauses, ihre kalte Stirn wartete auf einen Kuss.
    Die beiden Herren, Vater und Sohn, vereinbarten, sich noch einmal gründlich in den Armen der jeweiligen Liebsten auszuweinen und danach erneut zu telefonieren. Was hast du vor?, fragte Debbie Simon, bevor dieser seinen Sohn anrief. Ich muss hinfahren, sagte Simon, ich brauch ein Glas Wein, gibst du mir eins? Debbie gab ihm eins.
    Simon gestand mir, in jenem Augenblick, dem Augenblick, als er sein Glas trank, und ebendeshalb, wegen dieses Glases, überkam ihn diese Aufwallung der Dankbarkeit gegenüber Suzanne. Skandalös, sagte er zu mir, ich dankte ihr dafür, dass sie mich freigab. Einsamer kann man nicht sein, dachte ich. Ich meinte natürlich Suzie, aber auch ihn.
    Ich fahre dich, sagte Debbie. Simon rief Jamie an. Es muss etwa 19.15 Uhr gewesen sein. Die Uhrzeit spielt keine Rolle mehr. Ich frage mich trotzdem, wie das Licht in dem großen Zimmer am Meer gewesen sein mag. Auch in Paris muss es schön gewesen sein. Zu dieser Uhrzeit, zu dieser Jahreszeit, Anfang Juni, ist das Licht schön für jene, die bleiben und sich daran freuen können.
    Man machte sich noch einmal Gedanken um die Uhrzeit, als zu klären war, wann man sich treffen wolle in dem Krankenhaus, in dem Maman liegt, wie Jamie zu seinem Vater sagte. In der Tat hatten die Paare keine gleichen Bedingungen, die Entfernungen waren unterschiedlich. Anne und Jamie mussten etwa 400 Kilometer zurücklegen, Simon und Debbie etwa 100. Was tun?
    Simon riet seinem Sohn, bis zum nächsten Tag zu warten. Jamie weigerte sich. Ich fahre lieber jetzt gleich. Gut, sagte Simon, wie du willst, übrigens, ich fahre auch jetzt gleich, nicht wahr, Debbie? Mit wem sprichst du da?, fragte Jamie. Mit Debbie, sagte Simon, sie bringt mich im Wagen hin, und du, pass auf, fahr vorsichtig, hörst du?

22.
    Vor dem Aufbruch zum Krankenhaus, sagte mir Simon, habe er an mich gedacht, während er durch das große Fenster schaute. Er war natürlich tief getroffen von Suzannes Schicksal, und doch hat er an mich gedacht. Niedergeschlagen von Suzies Tod und von der Freiheit betäubt, und doch hat er an mich gedacht. Verstört von dieser Nachricht, die vor ihn, ihm vor die Füße gefallen war wie eine Opfergabe oder auch eine Bombe und einen Krater hinterlassen hatte, den er jedoch zu umgehen gedachte, um weiterzumachen. Mit dem Leben, sagte er mir, ich schaute aus dem großen Fenster, während ich auf Debbie wartete, die sich fertig machte, sie musste sich umziehen und noch ein paar Anrufe erledigen. Und in einem bestimmten Moment blickte ich nach links und sah im ausgebauten Dachgeschoss eines Gebäudes, eingelassen in die graue Fläche des Zinkdachs, ein Fenster mit einem grünen Rollo und darüber einen Streifen blauen Himmel mit einer weißen Wolke. Und trotz meinem kummergetränkten Glück oder meinem Kummer, der von einem Glück erhellt wurde wie ein bleierner Himmel von einem durchbrechenden Sonnenstrahl, dachte ich an dich, hm, wenn ich jetzt Maler wäre, dachte ich.
    Ich bin fertig, sagte Debbie. Wir können sofort losfahren, wenn du willst, oder wann immer du willst, kommst du zurecht?
    Ja, er kam zurecht. Ich komme schon zurecht. Im Augenblick jedenfalls, dachte er. Er fürchtete sich davor, seine Suzie als Tote zu sehen. Als läge ich an ihrer Stelle da,
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