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Ein Abend im Club

Ein Abend im Club

Titel: Ein Abend im Club
Autoren: Christian Gailly
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insgesamt sehr karg möbliert war, nur ein Bücherregal, ein paar Kleinigkeiten und ein graues Sofa.
    Als Simon es sah, das Piano, dachte er: Vielleicht hätte ich mich doch mit dem Gedanken anfreunden sollen, eins bei mir zu Hause zu haben. Dann stünde ich jetzt nicht hier, dachte er. Wo stündest du? Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nirgends. Auf jeden Fall wäre ich jetzt nicht hier mit dieser Frau zusammen, die ich liebe, ganz klar, mehr als je eine Frau, aber ich liebe auch meine Frau und ich warte auf sie: Denk dran, im Hotel anzurufen, sagte er sich.
    Ein Piano im Haus, das war Suzannes Einfall gewesen. Sie dachte: Anwesenheit des Instruments in der Wohnung: beugt jedem Rückfall, jedem Rezidiv vor: jedem Fluchtgedanken und allen Eskapaden.
    Simon hatte nein gesagt: Bei mir gibt’s nur alles oder nichts: Ich funktioniere nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip, genau wie ein alter Heizkessel: Wenn ich nicht alles haben kann, will ich gar nichts mehr. So war Simon. Kehrte allem den Rücken.
    Dabei war er ein guter Blattspieler, ein hervorragender Pianist, er hätte sich Noten kaufen können, sich einfühlen, Bach und Bartok üben können, Haydn und Schubert, Ravel und Beethoven, Mozart und Schumann, oder Debussy, was weiß ich, ja, aber nein. Bei diesen Komponisten begnügte er sich mit dem Zuhören, er ließ sie sich von anderen Pianisten vorspielen. Ja, das ist es, er überließ anderen die Verantwortung fürs Spielen. Ich bin, was ich immer war, sagte er mir, verantwortungslos.
    Welch ein Jammer. Nun ja. Debbie spielte täglich auf dem ihren, allein, zu ihrem eigenen Vergnügen. Sie begleitete sich zu Songs wie Love for Sale oder Never Let Me Go.
    Simon hörte gar keinen Jazz mehr. Hätte er einen Flügel in seiner Wohnung gehabt, hätte er gewiss auch darauf gespielt, Jazz, und irgendwann hätte er genug davon gehabt, allein zu spielen, er hätte nach einem Kontrabassisten verlangt und nach einem Schlagzeuger, ganz sicher, und die konnte Suzanne ihm nicht verschaffen, also hätte er sie sich selbst gesucht, dort, wo solche Leute sind, er wäre in seine Rhythmusgruppe zurückgekehrt, in sein natürliches Milieu, und bestimmt wäre er wieder jener tödlichen Mischung verfallen, tödlich für ihn und einige seinesgleichen: Nacht, Jazz, Alkohol, Drogen, Frauen, Jazz, Nacht.

20.
    Die Noten standen auf dem Notenhalter. Debbie bereitete sich in der Kochnische ein französisches Essen zu. Sie kochte sehr gut. Das sollte Simon erst später auffallen. An jenem Tag war es nur eine Kleinigkeit, eine kleine Zwischenmahlzeit. Der Duft ihres Omeletts verbreitete sich in dem großen Raum. Simon improvisierte über Never Let Me Go.
    Solche Dinge passieren. Alles geschah, als hätte er überhaupt nicht auf die Bedeutung des Titels geachtet. Verliebt swingend spazierte er durch die feinen Voluten dieses Stücks, und dann richtete er irgendwann den Blick auf die Noten, entzifferte die Wörter und übersetzte sie sich ungefähr mit: Lass mich niemals fort. Plötzlich beklommen, dachte Simon: Vergiss nicht, im Hotel anzurufen. Wie spät ist es? 15.30 Uhr. Suzanne war auf dem Weg zu Simon.
    Möchtest du mal probieren? Debbie schlenderte während des Essens durch den Raum und blieb hinter ihm stehen. Nein, danke, sagte er, ich habe keinen Hunger, nur ein Glas Wein bitte. Und genau in jenem Augenblick, ob es der Duft des Omeletts war, Debbies Stimme hinter seinem Rücken, die Schönheit des Flügels, der Zauber jener Melodie, das Licht im Raum, wahrscheinlich alles zusammen, dachte Simon, dass er nie nach Hause zurückkehren würde. Aber das ist noch nicht das Schlimmste.
    Das Schlimmste sei gewesen, sagte er mir, dass er Suzannes Tod gewünscht habe, einen Tod, der alles geregelt, alle befreit hätte. Er sagte mir, das habe er gedacht, natürlich nicht im Ernst, aber als Lösung aller bevorstehenden Probleme und des schon bestehenden, des immer gleichen Konflikts.
    Er sagte mir, ich habe mir gewünscht, dass sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt, und ich habe diesen Gedanken nie bereut, und als ich erfuhr, dass sie ums Leben gekommen war, habe ich ihr gedankt, ja, gedankt, das kannst du nicht verstehen, sagte er mir.
    Ich glaube doch. Einmal mehr hatte Suzanne außerordentliche Großzügigkeit bewiesen, als hätte sie gedacht: Wenn es das ist, was du willst, wenn du meinst, dass du so glücklich wirst, befreie ich dich von mir, existiere ich nicht. Aber das hat Suzanne nicht gedacht. Sie war unterwegs, um Simon nach Hause zu
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