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Éanna - Ein neuer Anfang

Éanna - Ein neuer Anfang

Titel: Éanna - Ein neuer Anfang
Autoren: Leonie Britt Harper
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Geschwister nie wiedersehen und nie erfahren, was aus ihnen geworden war: ob sie der Tod auf der Quarantänestation ereilt hatte oder ob sie überlebt und vergeblich versucht hatten, sie in dieser Stadt von einer halben Million Einwohnern zu finden.
    »Ich bitte Euch, mein Herr, nehmt mir nicht auch noch meine Kinder!«, flehte eine abgehärmte, spindeldürre Frau, als der Arzt ihre fünfjährige Tochter und den etwa elfjährigen Sohn, die beide an einem rotfleckigen Ausschlag litten, für die Aufnahme in die Quarantänestation bestimmte. »Wie sollen sie mich denn jemals wieder in dieser Stadt finden? Ich weiß doch nicht, wo ich Arbeit und ein Dach über dem Kopf bekomme! Um Christi und der Muttergottes willen, habt Erbarmen! Der Tod hat mir schon meinen Mann, meinen Ältesten und die Schwester genommen!«
    »Gute Frau, der Herr ist mein Zeuge, dass ich es wahrlich nicht gern tue. Aber es muss sein, glaubt mir«, sagte der Arzt mitfühlend, aber energisch. »Zu oft haben kranke Einwanderer für Cholera- und Typhusepidemien in New York gesorgt oder andere ansteckende Krankheiten in die Stadt getragen.« Mit einem kurzen Blick wies er seine Helfer an, der verzweifelten Frau die Kinder abzunehmen, die sich zitternd an sie drängten und der Mutter förmlich aus den Händen gerissen werden mussten.
    »Die so bitter erkaufte Freiheit zum Greifen nahe und dann das«, murmelte Éanna erschüttert, die den Vorfall hilflos mit angesehen hatte.
    Sie hatte schon so viel an Elend, Qual und Verzweiflung erlebt, aber das hier war noch schlimmer. Diese Menschen hatten die Rettung direkt vor Augen gehabt, als ihnen alles genommen wurde.
    Auch Brendan war zutiefst betroffen. Als er Zeuge wurde, wie man eine junge Frau von ihrem Mann wegführte, den sie erst vor wenigen Monaten in Dublin geheiratet hatte und dem nun ununterbrochen die Tränen über das Gesicht liefen, ergriff er stumm ihre Hand.
    Dann aber war die Inspektion endlich vorbei. Als der Arzt über die Strickleiter von Bord kletterte, ging ein leises Aufatmen, einem Seufzer gleich, durch die Menge. Die letzte Hürde war genommen! Amerika, das Land ihrer Träume, lag endlich offen vor ihnen.
    Kurz darauf holte die Mannschaft der Boston Glory den Anker ein. Und unter dem aufbrandenden Jubel von mehr als dreihundert irischen Auswanderern zog das Schiff nahe am Kai des Battery Parks vorbei und legte das letzte Stück seiner Reise bis zu den Docks am East River zurück.

Zweites Kapitel
    Das Hafenviertel entlang des East River mit seiner »Straße der Schiffe« erstreckte sich über geschlagene drei Meilen* von der Südspitze Manhattans bis hoch zur Flussbiegung bei Corlear’s Hook. Ähnlich beeindruckend war auch der Hafen auf der Westseite entlang des Hudson River. Doch während hier überwiegend kleinere Küstenschiffe vor Anker gingen, die Handel mit dem Hinterland bis hoch zu den Great Lakes betrieben, wurden die Piers am East River vor allem von großen Überseeschiffen angesteuert, die Waren und Passagiere aus der ganzen Welt nach New York brachten. Éanna, Emily und Brendan konnten sich nicht sattsehen an den unzähligen Anlegestellen, Werften, Handelskontoren, Lagerhäusern, Schiffsausrüstern, Werkstätten, Tavernen, Logierhäusern und den vielen anderen hohen Backsteingebäuden, die sich hier dicht an dicht und über mehrere Meilen hinweg entlang des Flusses drängten.
    Hier in New York war einfach alles um ein unglaublich Vielfaches größer als in ihrer Heimat. Und das traf nicht nur auf die pompösen Hafenanlagen, sondern auch auf das lärmende Treiben auf den breiten Kaianlagen zu. Es war ein einziges Kommen und Gehen, dessen Zeuge die staunenden Auswanderer wurden, ein verstörendes Gewimmel von Kutschen, offenen Einspännern, hochbeladenen Fuhrwerken, Packeseln, Männern mit Handkarren, Reitern, Matrosen, Händlern, Taschendieben, Straßenverkäufern mit umgeschnallten Bauchläden, Gepäckträgern, grell geschminkten und herausgeputzten Frauen, denen man ihr Gewerbe schon von Weitem ansah, barfüßigen Botenjungen, Zeitungsverkäufern – und nicht zu vergessen Schleppern, die an den Piers herumlungerten und es auf frisch eingetroffene Einwanderer aus Irland, Deutschland, Russland und anderen Ländern abgesehen hatten.
    Runner wurden diese gerissenen, skrupellosen Männer auch genannt, die mit der Ahnungslosigkeit und Gutgläubigkeit der Einwanderer ihr Geschäft machten. Meist standen sie in den Diensten von zwielichtigen Logier- und Mietshausbesitzern, die
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