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Éanna - Ein neuer Anfang

Éanna - Ein neuer Anfang

Titel: Éanna - Ein neuer Anfang
Autoren: Leonie Britt Harper
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herrschte ein unglaublicher Verkehr. Es wimmelte nur so von Schiffen und Booten jeder Art und Größe und aus aller Herren Länder. Ob Bark oder Brigg, stolze Neuengland-Clipper mit ihren vier himmelstürmenden Masten oder kleine Küstenschoner, ob Dampfer mit rauchenden Schloten oder winzige Ruderboote, sie alle glitten in einer atemberaubenden Vielfalt auf dem Wasser dahin. Einige von ihnen brachen mit neuer Fracht zu Reisen in ferne Länder auf, andere liefen nach Wochen oder gar Monaten der Überfahrt aus Indien, China oder Australien kommend den Hafen an oder kehrten von einer Fahrt ins Hinterland zurück. Und hinter dem Gewirr von Masten, Segeln und Schornsteinen zeichneten sich das dichte Häusermeer der Stadt mit den vielen hoch aufragenden Kirchturmspitzen und die Kaianlagen des Hafens ab, die zu beiden Seiten von Lower Manhattan wie die Zinken eines riesigen, scheinbar endlos langen Kamms ins Meer vorstießen und nicht von ungefähr »Straße der Schiffe« genannt wurden. Denn dort bildeten die vertäuten Schiffe ein noch dichteres Gewirr von Mast und Takelage als auf der Bay.
    Das Staunen der irischen Auswanderer fand kein Ende. Kaum einer von ihnen konnte fassen, dass allein in Manhattan eine gute halbe Million Menschen leben sollte. So wie Éanna, Emily und Brendan kamen auch die meisten anderen Zwischendeckpassagiere der Boston Glory vom Land, viele waren in ihrer Heimat arme Kleinpächter gewesen, die selten einmal einen Ort mit einigen Hundert Einwohnern zu Gesicht bekommen hatten und sich schon in Dublin verloren wie in einem Ameisenhaufen vorgekommen waren. Doch gegen New York wirkte Dublin nun wie ein leicht überschaubares Dorf. Und die Vorstellung, in dieser riesigen fremden Stadt Fuß fassen zu müssen, jagte plötzlich nicht wenigen der Auswanderer Angst ein.
    Die Boston Glory steuerte auf die Südspitze von Manhattan zu, wo ein kleiner baumbestandener Park bis ans Ufer reichte, der sich Battery Park nannte. Etwas links davon ragte das kreisrunde massive Steingebäude Castle Garden aus dem Wasser, eine frühere Festungsanlage, die dem Park ihren Namen gegeben hatte, aber schon seit einigen Jahrzehnten anderen Zwecken diente. Auf halber Strecke zwischen Staten Island und dem Battery Park ging die Boston Glory vor Anker.
    »Jetzt heißt es, die letzte Hürde zu nehmen«, stellte der Mann, der sich als Michael Macaulay vorgestellt hatte, nüchtern hinter Éanna, Brendan und Emily fest. »Jetzt wird’s ernst. Denn jetzt droht uns allen die Gesundheitsprüfung durch den Quarantänearzt! Und Gott stehe den armen Seelen bei, die nicht vor ihm bestehen werden!«
    Kaum hatte er das gesagt, da gab Captain Richardson seiner Mannschaft auch schon den Befehl, dafür zu sorgen, dass der Quarantänearzt seiner Arbeit trotz der Überbelegung des Schiffes unverzüglich und ordnungsgemäß nachgehen konnte.
    Über die Hälfte der an Deck versammelten Auswanderer wurde mehr oder weniger rüde nach unten ins Zwischendeck geschickt, um mittschiffs Platz für die Prüfung zu schaffen.
    Wenig später erklomm der Quarantänearzt in Begleitung von vier Gehilfen die Gangway. Er war ein wohlbeleibter Kahlkopf mit der besorgten und kummervollen Miene eines Mannes, der eine unerfreuliche, aber notwendige Pflicht zu erfüllen hat. Seine Begleiter, kräftige Männer, brachten vorsorglich mehrere Tragen und ein Bündel Leichensäcke mit, denn sie wussten aus Erfahrung, was sie auf einem solchen Schiff mit halb verhungerten irischen Auswanderern erwartete.
    Zunächst sprach der Arzt mit Captain Richardson, ließ sich von ihm die vorgeschriebene Liste mit den persönlichen Daten der Passagiere aushändigen und fragte nach dem Stand der Toten und Kranken. Dann stieg er mit seinen Begleitern hinunter ins Zwischendeck.
    Die Inspektion des Zwischendecks und die sich anschließenden Untersuchungen der Auswanderer auf dem Oberdeck dauerten mehrere Stunden. Zuerst wurden vier Tote unter bedrücktem Schweigen von Bord getragen, danach begann das verzweifelte Weinen und Schluchzen und erfolglose Betteln, als der Quarantänearzt sein Urteil über die Kranken fällte, die nicht mit ihren Familienmitgliedern an Land gehen durften.
    Auf sie warteten der Abtransport mit dem Quarantäneschiff und das Marine Hospital auf Staten Island, wo sie bleiben mussten, bis sie von ihren Krankheiten genesen oder gestorben waren.
    Viele von denjenigen, die in dieser Stunde von ihren erkrankten Lieben getrennt wurden, sollten ihre Kinder, Ehepartner oder
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