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Dystopia

Dystopia

Titel: Dystopia
Autoren: Patrick Lee
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eine Supermarktwerbung, alles adressiert an
Rob Pullman
. Er stutzte nicht mehr, wenn er ihn las – der Name gehörte längst ebenso zu ihm wie die Anschrift. Travis Chase war er schon seit über zwei Jahren nicht mehr genannt worden, weder mündlich noch schriftlich.
    In dieser Zeit hatte er seinen Namen bloß einmal gesehen. Nicht auf Papier geschrieben. In Stein gemeißelt. Eines Dienstags vor anderthalb Jahren war er ins Auto gestiegen und vierzehn Stunden lang bis nach Minneapolis gefahren, das er, ganz wie geplant, mitten in der Nacht erreichte, und hatte an seinem eigenen Grab gestanden. Der Grabstein war aufwendiger ausgefallen als erwartet. Eine große Marmortafel auf einem Sockel, gut einen Meter zwanzig hoch. Unter seinen Namen und die Lebensdaten war ein Bibelvers eingemeißelt: Matthäus 5, Vers 6. Was für Unsummen mochte sein Bruder dafür ausgegeben haben? Nachdem er fünf Minuten wie gelähmt davorgestanden hatte, verließ er den Friedhof wieder. Eine Stunde später fuhr er von der Autobahn auf einen Rastplatz und weinte wie ein Kind. Seither hatte er kaum je einen Gedanken an das alles verschwendet.
    Er stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf, warf die Post auf den Tresen in der Küche. Er machte sich ein belegtes Sandwich, nahm eine Cola light aus dem Kühlschrank und vertilgte diesen Imbiss im Stehen, an der Spüle. Zehn Minuten später lag er im Bett und starrte im Dunkel zur Decke empor. Sein Schlafzimmer hatte Fenster an zwei Wänden, die er beide geöffnet hatte, damit die drückend warme Luft zumindest in Bewegung war. Die Wohnung hatte keine Klimaanlage. Er schloss die Augen, horchte auf die nächtlichen Geräusche der Stadt, die mit der schwülen Brise hereindrangen, und merkte, wie ihn langsam der Schlaf übermannte. Er war schon beinahe eingeschlafen, als er hörte, wie ein Wagen an der Zufahrt zum Grundstück seine Fahrt verlangsamte. Durch die Augenlider nahm er wahr, wie Scheinwerferkegel über seine Zimmerdecke wanderten. Vor dem Haus machte der Wagen halt und blieb mit laufendem Motor stehen. Er hörte, wie eine der Autotüren geöffnet wurde, und dann kamen leichtfüßige Schritte über den Gehweg auf die Haustür zugelaufen.
    Dann schellte es bei ihm.
    Er schlug die Augen auf.
    Er wusste genau, wer das war.
    Der Nachbar in der Wohnung ein paar Türen weiter hatte eine Exfreundin, die mit Vorliebe betrunken in der Nacht hier aufkreuzte, um ihn zu einer weiteren Aussprache zu nötigen. Beim letzten Mal, vor drei Wochen, hatte sich der Typ taub gestellt und sie zu ignorieren versucht, worauf sie so lange auf jeden einzelnen Klingelknopf neben der Haustür gedrückt hatte, bis sich jemand erbarmte und sie hereinließ, sodass sie nach oben kommen und direkt an die Wohnungstür ihres Ex hämmern konnte. Nachdem es einmal so gut geklappt hatte, versuchte sie es diesmal offenbar von vornherein mit dieser Taktik. Einfach reizend.
    Es schellte ein weiteres Mal.
    Travis schloss die Augen und hoffte, dass es bald aufhörte.
    Beim dritten Klingeln fiel ihm etwas auf: Außer bei ihm wurde bei niemandem sonst im Haus geschellt. Das hätte er sofort gehört. Das Geräusch der Türklingel war ein tiefer Summton, der durch sämtliche Wände drang. Beim letzten Mal hatte er das deutlich hören können.
    Jemand da draußen klingelte ausschließlich bei ihm.
    Er schob das Laken weg und stand auf, ging ans Fenster und drückte das Gesicht ans Fliegengitter, um einen Blick nach unten zur Haustür zu werfen.
    Dort stand ein Mädchen. Nicht die Ex des Nachbarn. Und auch keine Betrunkene. Sie stand auf dem Gehweg, nur wenige Meter vom Haus entfernt. War nach dem Läuten offenbar ein paar Schritte zurückgetreten, um zu seinem offenen Schlafzimmerfenster hochzustarren – und zuckte sichtlich zusammen, als sie ihn jetzt dort erblickte. Sie wirkte ungeheuer nervös. Das Auto, das mit laufendem Motor zehn Meter hinter ihr stand, war ein Taxi.
    Wie alt mochte sie sein, so um die zwanzig? Vielleicht auch jünger, schwer zu sagen. Sie hatte hellbraunes, schulterlanges Haar. Große Augen hinter einer Brille, die ungefähr ein Viertel ihres Gesichts verdeckte – das Modell war entweder seit fünf Jahren aus der Mode oder seiner Zeit um fünf Jahre voraus.
    Travis hatte sie noch nie zuvor gesehen.
    Sie jedoch hatte ihn wohl schon mal gesehen, und sei es nur auf einem Foto. Daran ließ ihr Gesichtsausdruck keinen Zweifel. Sie erkannte ihn, sogar im spärlichen Licht der Laterne auf dem Parkplatz.
    Sie trat von
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