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Durst - Roman

Durst - Roman

Titel: Durst - Roman
Autoren: Limmat-Verlag <Zürich>
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Akademikern, während Radomir in einem kleinen Nest in der Nähe von Pale aufgewachsen war. Wir hatten uns so gut arrangiert, dass keiner von uns es für nötig hielt, sich scheiden zu lassen. Da wir keine Kinder hatten und keinen Anspruch aufeinander erhoben, gab es auch nie ernsthafte Streitigkeiten. Er kam mich von Zeit zu Zeit besuchen, manchmal gingen wir auf ein Wochenende nach Split ans Meer.»
    Sie unterbrach sich, weil in dem Moment die Wohnungstür aufgestossen wurde. Die blonde Frau, deren Bekanntschaft ich vor einigen Wochen in Frau Vukovi ć s Küche gemacht hatte, begrüsste mich mit einem knappen Nicken und lächelte dann Frau Vukovi ć zu.
    «Stell sie einfach nach oben, ich komm dir danach helfen», sagte Frau Vukovi ć .
    «Lass nur, ich weiss ja, was zu tun ist», entgegnete die Deutsche und begann Bananenschachteln, die sie von draussen hereinbrachte, über die Wendeltreppe in den ersten Stock zu tragen.
    Frau Vukovi ć sah ihr nach, bis nur noch ihre Beine zu sehen waren, und wandte sich dann wieder mir zu: «Zur Vorgeschichte vielleicht noch dies: Ich hab Radomir bei einem Arbeitseinsatz in Banja Luka kennengelernt, 1980. Einige Monate nach Titos Tod übrigens. Diese Arbeitseinsätze waren eine Einrichtung des Sozialismus, der Solidarität unter den Bundesstaaten. Freiwillige aus allen Teilen Jugoslawiens verpflichteten sich für einen Monat, dem Staat unentgeltlich ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Es war ein geselliger Anlass, fast wie ein Lager, das einem zudem die Möglichkeit gab, einen anderen Teil des grossen Bundesstaates kennenzulernen.
    In Banja Luka gruben wir Kanäle für die Wasserversorgung und für die Kanalisation. Ich hatte gerade meinen Abschluss gemacht und hatte noch keine Stelle, und Radomir war damals, glaube ich, auch arbeitslos. Es war seltsam. Dieser stämmige, ungehobelte Bauernbursche machte mir den Hof. Bis dahin hatten das noch nicht viele Männer getan. Normalerweise fürchten sich Männer seines Schlags vor intellektuellen, unabhängigen Frauen. Ich glaube, das imponierte mir. Er konnte auf seine Art sehr charmant und gewinnend sein, was wohl vor allem mit seinem grossen Selbstbewusstsein zusammenhing, das auf weiter nichts beruhte als auf der Überzeugung, es stände ihm zu …»
    Sie stellte den Becher, den sie die ganze Zeit in der Hand behalten hatte, auf den Tisch. «Aber lassen wir das. Im Frühling fünfundneunzig kam mich Radomir besuchen und eröffnete mir, er wolle Bosnien verlassen, um in der Schweiz ein neues Leben zu beginnen. Er meinte, er sähe in den Ruinen des alten Jugoslawiens keine Zukunft mehr. Man habe ihm ein Angebot gemacht: Er könne sein eigenes Geschäft eröffnen.
    Er sprach mir aus der Seele. Ich mochte ebensowenig in diesem zerstörten Jugoslawien leben, zumal in diesem Serbien, das sich mit so viel Schuld beladen hatte. Alles, woran ich geglaubt hatte, die Brüderlichkeit der Südslawen, der Sozialismus, Titos Erbe, die Mittlerrolle Jugoslawiens zwischen den Welten dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs, das alles lag in Trümmern. Radomir hoffte, ich würde ihn begleiten – obwohl er mich nicht direkt darum bat. Er rechnete sich wohl die besseren Chancen aus, wenn er mit seiner Frau einreiste. Den Wechsel der Identität begründete er damit, dass wir als ausgewiesene Kriegsflüchtlinge eher auf das Eintreten unseres Asylgesuchs hoffen konnten. So kamen wir in die Schweiz. Radomir hatte einen Cousin in Emmenbrücke, bei dem konnten wir leben, bis wir eine eigene Wohnung bezogen. Seine Beziehungen zu Brechbühl im Übrigen bestanden schon vor unserer Einreise. Möchten Sie noch ein Bier?»
    Ich lehnte dankend ab.
    «So viel zur Vorgeschichte. Ich wusste zwar von den Gräueln, die insbesondere von der serbischen Seite verübt worden waren, denken sie an Srebrenica! Auch die Gefangenenlager von Fo č a waren mir nicht unbekannt, aber nie im Leben hätte ich gedacht, Radomir könnte irgendwas damit zu tun gehabt haben. Bis auf den Tag, als der erste Brief kam. Ich wunderte mich gleich über die Beschriftung mit der alten Schreibmaschine. Wie üblich legte ich ihm die Post zum Mittagessen neben seinen Teller. Dort pflegte er sie noch vor dem Essen zu lesen. Ich bemerkte, wie er vor Schreck erstarrte, als er den Brief las. Aber er wollte mir keine Auskunft geben. Später hab ich sie alle drei gelesen, sie kamen im Abstand von wenigen Tagen. Er hatte sie auf seinem Schreibtisch liegen lassen, weil er wusste, dass ich sein
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