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Durcheinandertal

Durcheinandertal

Titel: Durcheinandertal
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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schwer Blessierten auf dem Boden der Dependance unterzubringen. Sie standen Leib an Leib gepreßt. Aber der Operationssaal ließ sich nicht in eine Waschküche zurückfunktionieren, wo noch Marihuana-Joe lag, hatte doch seine Visagenverwandlung eine erneute Vollnarkose nötig gemacht, so daß es Wanzenried unbehaglich zumute war, als der Gesamtregierungsrat das Kurhaus durchwanderte.
    Wanzenried, immer noch leicht gehbehindert, schloß umständlich die Räume auf, den Salon, den Speisesaal, die Einzel- und Doppelzimmer, die Luxusappartements, alle leer.
    Nur den Schlüssel zum Boden der Dependance fand er nicht.
    Er suchte und suchte, doch der Regierungspräsident meinte, auf den Unsinn, auch noch den Boden des Nebengebäudes zu besichtigen, dürfe man verzichten, worauf Wanzenried sagte, jetzt habe er den Schlüssel gefunden, aber die Regierungsräte gingen schon die Treppe hinunter. Schon atmete Wanzenried auf, als der Untersuchungsrichter unvermutet noch die Wäscherei zu besichtigen wünschte. Marihuana-Joe wäre samt Operationssaal entdeckt worden, wenn nicht Wanzenried dem Untersuchungsrichter so geschickt ein Bein gestellt hätte, daß dieser die Kellertreppe hinunterfiel und ein Bein brach, worauf die Inspektion der Wäscherei unterblieb. Ein Arzt und ein Krankenwagen mußten herbeordert werden, so daß keine Zeit 92
    blieb, auch noch das Dorf zu befragen.
    Am Abend des letzten Adventssonntags vollendete Moses Melker sein über fünfhundertseitiges Manuskript ›Preis der Gnade‹. Er trat auf die Terrasse. Es war schon Nacht. Der Mond ging hinter der Eiche unter. Der Schnee war immer noch nicht gekommen, dafür der Nebel von der Grien. Vom Dorf war nur der Kirchturm sichtbar, weiß im Licht des halben Monds, und der Nebel, aus dem der Kirchturm ragte, war wie der Nil. Er stieg ins Schlafzimmer. Cäcilie Melker-Räuchlin lag im Ehebett, las einen Roman, rauchte eine Zigarre und aß Pralinen, kugelförmige Truffes, die sie einer Tüte entnahm, schwarze, braune, weiße, glatte und stachlige. Zwei weitere solcher Tüten lagen auf dem Nachttisch. Moses Melker setzte sich zu ihr ans Bett und stopfte ihr eine Truffe in den Mund, bei der zweiten legte sie die Zigarre in den Aschenbecher und den Roman auf die Bettdecke, öffnete den Mund gieriger, er stopfte eine weitere Truffe hinein. Sie sah ihn an. Der Blick war hart und voll Spott, grausam und erbarmungslos, und er wußte, daß sie wußte, was er vorhatte. Sie wehrte sich nicht. Er brauchte keine Gewalt anzuwenden. Er stopfte Truffes in sie hinein, er stopfte und stopfte, und erst als er auch die Truff es der dritten Tüte in sie hineingestopft hatte, merkte er, daß sie tot war. Moses Melker ging in sein Arbeitszimmer hinunter, widmete das Manuskript Cäcilie und setzte das Datum darunter.
    Vielleicht hätten die beiden über ihre Schwierigkeiten reden sollen, gesetzt, es waren der Große Alte und Jeremiah Belial, die sich weit südlich des König-Haakon-Plateaus in der Antarktis trafen. Dieses Treffen fand öfters statt, aber die 93
    zeitlichen Abstände zwischen den Treffen waren wiederum so groß, daß sie selten stattfanden. Sie fanden immer am gleichen Ort statt. Aber das letzte Mal war die Landschaft tropisch und sehr fruchtbar gewesen, die Erdachse lag anders. Nun waren ihre Helikopter auf einer Eisfläche gelandet, über die der Wind pfiff. Die Helikopter landeten gleichzeitig, aber vielleicht war es nur ein Helikopter, der landete, denn alles spiegelte sich im Eis und in der gläsernen Luft, und wenn es Jeremiah Belial war, der den Großen Alten begrüßte – wenn es der Große Alte war –, so sah jener nicht so aus, wie er vorher ausgesehen hatte, sondern so, daß ihn Gabriel für den Großen Alten, dann für das Ebenbild des Großen Alten hielt. Nicht nur, weil beide im Smoking waren. Alle waren im Smoking. Doch etwas stimmte an diesem Ebenbild nicht, bis Gabriel dahinter kam: Jeremiah Belial war nicht das Ebenbild des Großen Alten, sondern dessen Spiegelbild. Alle waren sie Spiegelbilder. Das Spiegelbild des Großen Alten war Jeremiah Belial, und das Spiegelbild Jeremiah Belials war der Große Alte. Das Spiegelbild Gabriels war Belials Sekretär Sammael, auch ein Albino, und umgekehrt, das Spiegelbild Uriels Azetôt, der Uhren herstellte, nur daß sie rückwärts gingen, für den die Uhren Uriels rückwärts gingen, das Spiegelbild des Chirurgen Michael Asmodäus und umgekehrt, und der Rechtsanwalt Raphael, der sich zu einer Person zusammengezogen
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