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Dunkler Zwilling

Dunkler Zwilling

Titel: Dunkler Zwilling
Autoren: Doris Bezler
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mit, er ist da lang!« Justin zog Max am Ärmel mit sich fort. Justin folgte dem Schienenstrang in die Dunkelheit. Nach einiger Zeit konnte Max schemenhaft eine massige Gestalt erkennen, die etwas Schweres entlang der Gleise trug. Mit einem Mal war ihm klar, was sich dort abspielte und dass Justin die Gefahr richtig eingeschätzt hatte.
    »Hast du die Polizei gerufen?«, keuchte er.
    »Die Bullen? Nein!«, rief Justin.
    »Ich hab mein Handy nicht!«, rief Max. »Los, ruf an! Du musst!«
    Max hatte keine Gelegenheit mehr, zu kontrollieren, ob Justin gehorchte. Er rannte der dunklen Gestalt hinterher und konnte sehen, wie sie ihr Bündel auf die Schienen gleiten ließ. Mit wenigen Sätzen war Max heran und kniete sich nieder. »Chiara!«, schluchzte er und griff nach ihrem Kopf, der schlaff zur Seite lag. Er spürte klebriges, warmes Blut an den Händen.
    Der Mann im dunklen Mantel packte ihn mit eisernem Griff an der Schulter, zog ihn zurück und verpasste ihm einen heftigen Schlag seitlich gegen das Kinn. »Du mischst dich hier nicht ein! Hau ab!«, brüllte er ihm ins Ohr. Benommen richtete Max sich auf, der nächste Schlag traf ihn vor die Brust. Er trat einen Schritt zurück, um dem neuen Angriff auszuweichen.
    Von Bentheim stand leicht schwankend vor ihm und hob den Arm. Max bückte sich und trat ihm heftig gegen das Schienbein. Bentheim kam nicht zu Fall, sondern glich die Rückwärtsbewegung durch einen Schritt nach vorne aus. Mit seinem ganzen Gewicht ließ er sich auf Max fallen. Max gelang es noch, sich seitlich wegzudrehen, doch er konnte nicht verhindern, dass er mit Bentheim über sich rückwärts zu Boden ging. Bentheim richtete den Oberkörper auf, um erneut zuzuschlagen. Max drehte den Kopf zur Seite und zog das Knie an. Von weit her drang ein Geräusch an sein Ohr, das er kannte. Der nächste Zug näherte sich. Max hatte trotz des Kampfes registriert, dass er und Bentheim sich von den Schienen wegbewegt hatten. Aber Chiara lag noch dort. Er musste hin, um sie in Sicherheit zu bringen. Wie viel Sekunden hatte er noch? Er hörte sich schreien. Er versuchte, Bentheim über sich loszuwerden, doch der drückte ihm die Arme nach unten auf den Boden. Sein Gesicht kam ganz nahe. Max roch Alkohol.
    »Das hast du nun davon«, spuckte Bentheim ihm entgegen. »Du bist schuld an allem, was hier passiert ist! Nur du! Weil du keine Ruhe geben konntest!« Bentheim holte zum nächsten Schlag aus. Plötzlich rauschte mit Getöse eine flackernde Lichterkette knapp hinter ihnen vorbei. Der Zug! Chiara! Der eisige Fahrtwind zischte über Max hinweg, riss ihm die Haare aus dem Gesicht und spie ihm Staub und Eiskristalle in die Augen. Das Brausen und Toben um ihn herum vermischte sich mit einem überirdischen Verzweiflungsschrei, der sich aus Max’ Brust löste. Es fühlte sich an, als habe er sich selbst in diesen Schrei verwandelt, als sei nichts anderes mehr von ihm übrig als nur dieser Schrei.
    Bentheims Schlag traf ihn wehrlos und raubte ihm für einige Sekunden die Besinnung. Irgendjemand zog Bentheim mit einem Ruck von ihm herunter. Max blieb liegen und starrte in die Dunkelheit über sich. Von weit her hörte er Martinshornsignale. Zu spät, dachte er.
    Er wollte hier liegen bleiben, für immer. Plötzlich hörte er eine piepsige Stimme neben sich. »Hallo? Ja, ich hatte gerade schon angerufen. Aber Sie müssen auch noch einen Krankenwagen schicken. Hier ist jemand schwer verletzt. Am Kopf. S-Bahn-Station Modertal. Ich? Ich heiße Max. Max Wirsing.«
    Als er seinen Namen hörte, wandte Max langsam den Kopf in Richtung der Stimme. Justin hockte auf dem Boden, unweit der Schienen. Er hatte Chiara neben sich auf die Seite gelegt und ihr seinen zusammengerollten Anorak unter den Kopf gesteckt. Er streichelte ihr durch das lockige Haar. Sie lag da mit geschlossenen Augen, doch ihre Lippen zitterten, und sie stöhnte leise. Max stemmte sich auf die Knie und kroch zu ihr hinüber.
    Er legte die Hand auf ihre Stirn und spürte ihre Körperwärme. Ihr Gesicht sah er nicht mehr. Es verschwamm vor seinen Augen. Er wischte sich die Tränen weg und sah sich vorsichtig um. Wo war von Bentheim? Warum hatte er plötzlich von ihm abgelassen?
    Bentheim stand nicht weit von ihm. Er klopfte und strich den Schmutz von seinem Mantel und richtete seine Kleidung. Neben ihm stand eine Gestalt mit hängenden Schultern und einem verwitterten Steingesicht und zog an einer Zigarette. Köhler.
    Dann überschlugen sich plötzlich die
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