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Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn
Autoren: Wulf Dorn
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sein, aber jemandem wie Ihnen könnte er doch nie das Wasser reichen.«
    »Oho, vielen Dank.« Jan lachte. »Aber falls Sie heute wieder früher gehen wollen, muss ich Sie enttäuschen.«
    Sie ging auf diesen Scherz nicht ein und wirkte auf einmal sehr ernst. »Nein, das meine ich wirklich so. Sie sind ein ganz besonderer Mensch. Diese Kinderstation zum Beispiel, die würde es ohne Sie in zehn Jahren noch nicht
geben. Oder Ihre Patienten … Sie sollten mal hören, wie die über Sie reden. Ich kenne hier nicht viele Ärzte, die so beliebt sind wie Sie.«
    »Das ist sehr nett«, sagte Jan, und ihm fiel auf, dass sie seinem Blick nicht standhalten konnte. »Aber ich tue hier einfach nur meine Arbeit. Die neue Station war längst überfällig, und die Pläne dafür gab es schon länger, als ich hier bin. Außerdem bin ich ja auch nicht der Einzige, der sich dafür starkmacht.«
    »Sie tun mehr als nur Ihre Arbeit, Dr. Forstner.« Bettina klang entschlossen, auch wenn sie Jan dabei nicht ansehen konnte. »Sie wissen, wie es in den Menschen aussieht, und deshalb mögen sie Sie.«
    Wie schon am Tag zuvor glaubte Jan wieder, das schüchterne Mädchen zu sehen, das sich hinter der koketten Fassade verbarg. Doch im nächsten Moment wechselte sie wieder zu ihrer frechen Art. »Außerdem müssen Sie sich ja auch nicht gerade verstecken«, sagte sie nun etwas lauter und zwinkerte ihm zu. »Für jemanden in Ihrem Alter sehen Sie doch noch ganz gut aus.«
    »Na, solche Komplimente hat man gern.«
    Sie grinste. »Sie sollen ja nun auch nicht übermütig werden.«
    Damit ließ sie ihn stehen und verschwand mit dem übrigen Poststapel im Stationszimmer.
    Zurück in seinem Büro, sah Jan in den Spiegel über dem Handwaschbecken. Er war nun sechsunddreißig, durch sein dunkles Haar zogen sich erste graue Strähnen, und um die braunen Augen zeigten sich einige Falten, die vor ein oder zwei Jahren noch nicht da gewesen waren. Aber alles in allem hatte er sich noch ganz gut gehalten, fand er – erst recht nach dem Kompliment einer jungen Frau, die genau genommen seine Tochter hätte sein können.

    »Vorsicht, du eitler Gockel«, murmelte er seinem Spiegelbild zu. »Das sind die ersten Anzeichen einer Midlife-Crisis. «
    Oder deiner Einsamkeit , fügte eine leise innere Stimme hinzu.
    Carla fehlte ihm. Er hatte sie gestern Abend noch mehrfach zu erreichen versucht, war aber stets nur mit ihrer Mobilbox verbunden worden und hatte jedes Mal wieder aufgelegt, ehe der Piepton ertönte. Ihm war nicht danach gewesen, sich mit ihrem Anrufbeantworter zu unterhalten. Dafür war das, was er ihr sagen wollte, zu persönlich.
    Mit gemischten Gefühlen sah er zu dem Rosenstrauß, der auf dem Aktenschrank neben dem Kaffeeautomaten thronte, und widmete sich dann der Post. Gerade als er das erste Kuvert geöffnet hatte, klingelte das Telefon. Jan meldete sich, doch am anderen Ende der Leitung war nichts zu hören.
    »Hallo?«
    Stille.
    Zuerst glaubte Jan, die Verbindung sei unterbrochen – keine Seltenheit bei der veralteten Telefonanlage der Klinik – , aber dann vernahm er ganz schwach ein Atmen.
    »Hallo, wer ist denn da?«
    Doch der Anrufer antwortete nicht.
    Jan sah auf das Display und las EXTERNER ANRUF, was entweder auf einen analogen Anschluss oder eine unterdrückte Rufnummer hindeutete. Möglicherweise war es einer seiner ambulanten Patienten. Aber warum meldete er sich nicht?
    »Wenn Sie nichts sagen, werde ich auflegen.«
    Keine Reaktion. Nur ein leises Rascheln war zu hören, bei dem es sich vielleicht um das Reiben von Stoff an den
Sprechschlitzen handelte, begleitet von den kaum wahrnehmbaren Atemgeräuschen.
    »Hören Sie, Sie haben den Anschluss von Dr. Jan Forstner in der Waldklinik gewählt. Wenn Sie mit mir reden wollen, dann sagen Sie etwas.«
    Jan wartete noch kurz, und als er dann immer noch keine Antwort erhielt, legte er kopfschüttelnd auf. Er nahm wieder das Kuvert zur Hand, als das Telefon erneut klingelte.
    Wieder nannte Jan seinen Namen, und wieder meldete sich der externe Anrufer nicht.
    »Wer sind Sie?«
    Nichts.
    Jan seufzte. »Was soll das, hm?«
    Auch dieses Mal erhielt er außer dem leisen Atmen keine Antwort.
    »Also, falls das ein Scherz sein soll, dann …«
    »Jan.« Die Anruferin sprach so leise, dass Jan sie fast nicht gehört hätte.
    »Wer ist da?«
    »Jan«, wiederholte die Stimme, eine junge Mädchenstimme, wie es Jan schien.
    »Ja, hier ist Jan Forstner. Und mit wem spreche ich?«
    »Ohne dich schaffe ich
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