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Dunkler Fremder

Dunkler Fremder

Titel: Dunkler Fremder
Autoren: Jack Higgins
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vorangehen.«
      Er folgte ihr die mit einem dicken Läufer belegte
Treppe hinauf. Sie gingen durch einen langen Gang, und Shane folgte der
Alten über eine weitere Treppe ins zweite Obergeschoß. Dann
standen sie vor einer mit schmiedeeisernen Bändern
verstärkten Eichentür, die sie öffnete und ihn eintreten
ließ.
      Noch immer trommelte Regen auf das Glasdach, und
über allem lag eine brütende Stille. Es war, als ob man ein
türkisches Bad beträte, und die schwüle Wärme legte
sich beinahe lähmend auf Shane, dem der Schweiß auf die
Stirn trat. Er streifte seinen Trenchcoat ab und warf ihn über
einen Stuhl neben der Tür.
      Der Raum glich einem Dschungel. Ein Gewirr grüner
Blätter und wildwuchernder Ranken war mit einer Fülle
exotischer Blüten übersät, und ein fremdartig lastender
Duft legte sich wie mit unsichtbaren Händen auf alles und
bereitete Shane ein dumpfes Unbehagen. Dazu breitete sich der
beißende, penetrante Geruch des Dschungels nach Verwesung und
verrottendem Laub überall aus. Schweratmend ging er den schmalen
Pfad entlang, der vor ihm lag.
      Rechts von sich vernahm er ein undeutliches,
gespenstisches Rascheln, als ob sich dort jemand verstohlen
vorwärtsbewegte. Als er das Ende des Treibhauses erreichte,
stieß er auf einen Tisch mit zwei Korbsesseln, die vor der
Tür standen, die auf die Terrasse hinausführte. Von Graham
war keine Spur zu entdecken.
      Shane zögerte, überlegte, und gerade als er
im Begriff war, auf die Terrasse hinauszutreten, wurde ihm
plötzlich bewußt, daß er beobachtet wurde. Er wandte
sich um und fragte laut: »Bist du hier, Graham?«
      Einen Augenblick lang herrschte Stille, in die sich
ein tiefer Seufzer mischte, als ob ein sanfter Windstoß durch die
dichten Blätter gestrichen wäre. Eine Stimme antwortete mit
einem gebrochenen heiseren Flüstern: »Es tut mir leid,
Shane, aber ich mußte mich vergewissern. Ich konnte nicht
glauben, daß du es wirklich bist. Ich hatte geglaubt, du seist
nicht mehr am Leben.«
      Beim Klang dieser Stimme zuckte Shane
unwillkürlich zusammen. Sie hätte etwas Furchterregendes und
Unwirkliches an sich. Etwas, das einen leisen Akkord der Angst in ihm
anklingen ließ. Er zwang sich zu einem Lächeln und sagte so
gelassen, wie es ihm möglich war: »Schon gut, Graham. Ich
bin es tatsächlich.«
      Die Blätter vor ihm raschelten in einer leichten
Bewegung, dann wurden sie beiseite geschoben und Graham kam in Sicht.
Shanes Augen weiteten sich vor Entsetzen, und eine Gänsehaut lief
ihm unwillkürlich über den Rücken. Der Mann, der vor ihm
stand, hatte schneeweißes Haar und ein Gesicht wie aus einem
Horrorfilm. Aus einer Masse zerfetzter und zernarbter Haut heraus mit
einem Mund, der wie eine offene Wunde wirkte, blickte ihn ein Paar
Augen fest und unverwandt an.
      Langsam und erschreckend verzog sich dieses
zerstörte Gesicht zu einem qualvollen Lächeln, und Graham
streckte ihm eine Hand entgegen. »Tut mir leid, daß ich
dich so schockieren muß. Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich
niemanden ermutige, mich zu besuchen.«
      Shane ergriff die ausgestreckte Hand. »Es tut
mir leid, Graham«, antwortete er befangen. »Ich hatte keine
Ahnung. Wie ist das geschehen?«
      Graham wies achselzuckend auf einen der Korbsessel.
»Lassen wir das im Augenblick«, antwortete er. »Wie
ist es dir ergangen? Das letzte, was ich damals von dir gesehen habe,
war ein Bein, das unter einem Trümmerhaufen hervorragte, nachdem
die Bomben diesen verdammten Tempel zerstört hatten.«
      Er sprach wieder mit diesem gespenstischen, heiseren
Krächzen. Shane bot ihm eine Zigarette an und sagte: »Ich
wurde schwer verwundet. Eine Gehirnverletzung. Sie hatte vollkommene
Bewußtlosigkeit zur Folge. Es ist erst wenige Tage her, daß
ich meine Erinnerungen wiedergewonnen habe.«
      Graham gab ihm Feuer und lehnte sich in seinen Sessel
zurück. »Das kann nicht gerade angenehm gewesen sein«,
sagte er, »aber es klingt interessant. Erzähle mir
Genaueres.«
      Shane blickte in das Tal hinab auf die Stadt, die
verschwommen in Dunst und Regen unter ihm lag, und begann zu berichten.
Zunächst versuchte er, Graham nicht anzusehen, aber es erwies sich
als unmöglich, seinem Anblick ständig auszuweichen, und
jedesmal, wenn er ihn ansah, stellte er fest, daß Graham ihn
nicht aus den Augen ließ.
      Als er seinen Bericht beendet hatte, seufzte Graham
tief auf. »Dann hatte ich gar nicht mal so unrecht. In gewisser
Weise
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