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Dunkler Dämon

Dunkler Dämon

Titel: Dunkler Dämon
Autoren: Jeff Lindsay
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vollständig zu entsorgen, was würde ich dann mit so vielen Ankern anfangen? Und natürlich, wenn man es so betrachtete, schien es offensichtlich, dass MacGregor mit nur vier Ankern unter der Koje wiederkehren würde, wenn er das nächste Mal mit einem seiner kleinen Freunde auf Kreuzfahrt ging.
    Gewiss ergaben die kleinen Einzelheiten, die ich gesammelt hatte, ein interessantes Bild. Stillleben ohne Kinder. Aber bis jetzt hatte ich nichts entdeckt, das man nicht als eine massive Häufung von Zufällen hätte erklären können, und ich brauchte absolute Gewissheit. Ich musste unbedingt ein überwältigend schlüssiges Beweisstück finden, etwas so absolut Eindeutiges, dass dem Code Harry Genüge getan wurde.
    Ich fand es in der Schublade rechts neben der Koje.
    In das Bootsschott waren drei kleine Laden eingebaut. Die unterste schien ein wenig kürzer als die beiden oberen. Möglich, dass es Absicht war, dass die Neigung des Rumpfs es erforderte. Aber ich studiere die menschliche Natur nun schon seit Jahren, und das hat mich zutiefst misstrauisch werden lassen. Ich zog die Lade ganz heraus, und siehe da: Am hinteren Ende der Schublade befand sich ein Geheimfach. Und in dem Geheimfach …
    Da ich nicht wirklich ein menschliches Wesen bin, sind meine emotionalen Reaktionen im Allgemeinen auf das beschränkt, was ich zu imitieren gelernt habe. Deshalb verspürte ich weder Schock noch Zorn, auch keinen Ärger, nicht einmal bittere Entschlossenheit. Diese Gefühle überzeugend zu spielen ist ausgesprochen schwierig, und ich hatte kein Publikum, warum sich die Mühe machen? Aber ich spürte, wie ein stetiger, eisiger Wind vom Dunklen Rücksitz über mein Rückgrat strich und trockene Blätter über den Boden meines Echsenhirns wehte.
    Fünf der nackten Jungen in dem Stapel Fotografien konnte ich identifizieren, in verschiedenen Stellungen arrangiert, als sei MacGregor noch auf der Suche nach einem eindeutigen Stil. Und ja, tatsächlich, er ging wirklich verschwenderisch mit seinem Paketband um. Auf einem der Bilder wirkte der Junge, als steckte er in einem silbergrauen Kokon, nur gewisse Bereiche waren frei geblieben. Welche Bereiche er unbedeckt ließ, verriet mir viel über MacGregor. Wie ich vermutet hatte, war er nicht die Sorte Mann, die sich Eltern als Leiter einer Pfadfindergruppe wünschen.
    Die Fotos waren scharf, aus vielen verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen. Eine Serie stach besonders hervor. Ein bleicher und schlaffer nackter Mann mit schwarzer Kapuze stand neben dem stramm gefesselten Jungen, es wirkte fast wie eine Fototrophäe. Angesichts der Gestalt und Farbe des Körpers war ich mir ziemlich sicher, dass es sich bei dem Mann um MacGregor handelte, obwohl die Kapuze sein Gesicht bedeckte. Und während ich durch die Bilder blätterte, kamen mir zwei interessante Gedanken. Der erste war: Aha! Er bedeutete natürlich, dass es absolut keinen Zweifel mehr daran gab, was MacGregor getan hatte, und er jetzt der glückliche Hauptgewinner in der Tombola des Dunklen Passagiers war.
    Und der zweite Gedanke, ein wenig beunruhigender, lautete: Wer machte die Fotos?
    Die Bilder waren aus zu vielen verschiedenen Winkeln aufgenommen worden, als dass es sich um einen Selbstauslöser handeln konnte. Und während ich sie ein zweites Mal durchblätterte, fiel mir in zwei von oben geschossenen Aufnahmen die Spitze von etwas auf, das wie ein roter Cowboystiefel aussah.
    MacGregor hatte einen Komplizen. Das Wort erinnerte an Gerichtshows im Fernsehen, aber mir fiel kein besseres ein. Er hatte das alles nicht allein getan. Jemand hatte ihn begleitet und, wenn schon nichts anderes, auf jeden Fall zugesehen und die Aufnahmen gemacht.
    Errötend muss ich zugeben, dass ich auf dem Gebiet halbwegs ungewöhnlicher Körperverletzung ein bescheidenes Wissen und Talent besitze, aber so etwas war mir noch nie zuvor untergekommen. Trophäen, ja – immerhin besaß ich selbst einen kleinen Kasten voller Objektträger mit jeweils einem Tropfen Blut darauf, die mich an jedes einzelne meiner Abenteuer erinnerten. Vollkommen normal, eine Art Souvenir mitzunehmen.
    Aber die Anwesenheit einer zweiten Person, die zusah und Fotos machte, verwandelte einen sehr intimen Akt in eine Art Zurschaustellung. Es war absolut unanständig – der Mann war ein Perverser. Wäre ich zu moralischer Entrüstung fähig, ich bin sicher, ich wäre erfüllt davon gewesen. Doch wie die Dinge lagen, war ich nur umso begieriger, meine Bekanntschaft mit MacGregor
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