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Du musst die Wahrheit sagen

Titel: Du musst die Wahrheit sagen
Autoren: Mats Wahl
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von der anderen Seite der Hecke eine Männerstimme.
    »Hallo!«
    Ich richtete mich mit dem Kanister in der Hand auf.
    »Hallo!«, antwortete ich.
    »Ich heiße Karl Berger«, ertönte es von der anderen Seite der hohen Hecke. Die Stimme klang wie die eines sehr alten Mannes.
    »Tom Eriksson«, antwortete ich.
    »Ich höre, dass du den Rasen mähst.«
    »Ich habe erst mit der Sense gemäht. Jetzt muss ich noch mit dem Rasenmäher drübergehen.«
    »Bist du der Gärtner?«
    »Ich wohne hier.«
    »Aha! Ellen habe ich gut gekannt. Wir waren viele Jahre lang Nachbarn. Ich habe auch Harry gekannt.«
    »Wir sind gestern hier eingezogen.«
    »Du bist also kein Gärtner?«
    »Ich gehe noch zur Schule. Ich komme in die Achte.«
    »Aha!«, tönte es wieder herüber. »Könntest du dir vorstellen, auch meinen Rasen zu mähen? Ich bezahle, sag mir, was du dafür haben möchtest.«
    »Klar, gern, aber heute geht es nicht.«
    »Das verstehe ich«, ertönte es auf der anderen Seite der Hecke. »Willst du nicht einen Moment zu mir rüberkommen, damit wir uns unterhalten können, ohne dass die Hecke zwischen uns ist?«
    »Gut, ich komme.« Ich stellte den Benzinkanister ab, zog die Handschuhe aus und hängte sie über den Griff des Rasenmähers.
    Dann ging ich durch die kleine Pforte und zwanzig Meter weiter an der Straße entlang. Die Hecke des Nachbarn war genauso hoch wie unsere.
    Oben an der schwarz lackierten schmiedeeisernen Pforte war zwischen zwei S-förmigen Eisenstäben ein tellergroßes Medaillon angebracht. Darauf war ein nackter Mann abgebildet, der Harfe spielte. Er trug einen Kranz auf dem Kopf.
    Ich öffnete die Pforte und betrat den von Unkraut überwucherten Schotterweg, der im Augenblick im Schatten der Hängebirken lag.
    Das Grundstück schien genauso groß zu sein wie unseres, und das Haus glich unserem bis auf die Farbe. Es war gelb statt rot. Die Eckpfosten waren weiß gestrichen wie bei uns, und der Eingang war nach Westen hin ausgerichtet und nicht nach Osten wie bei unserem Haus.
    Der Alte, es war wirklich ein alter kleiner Mann, kam um die Ecke gewatschelt. Er trug ein blau kariertes Flanellhemd und eine Baumwollhose, die vielleicht einmal weiß gewesen war. Jetzt war sie nur noch einigermaßen sauber und wurde von blauen Hosenträgern gehalten. Der Mann hatte diese braunen Flecken im Gesicht, die manche Leute im Alter bekommen. Er benutzte einen Bambusstock. Seine nackten Füße steckten in verschlissenen Stoffschuhen. Er wirkte gebrechlich, war runzlig und gebeugt und streckte mir seine Rechte hin.
    »Karl Berger«, sagte er. Sein Handschlag war pulvertrocken und die Stimme ein Flüstern, als hätte er seit Tagen mit niemandem geredet.
    »Tom.«
    Der Alte trug eine Brille mit großen eckigen Gläsern, die dieAugen dahinter unnatürlich vergrößerten und seine ganze Erscheinung seltsam prägten.
    »Früher hat die Gemeinde für das Rasenmähen gesorgt, aber jetzt haben sie diese Form von Hilfe eingestellt, und ich muss jemanden finden, der mir die Arbeit abnimmt.«
    Er hob den Stock und zeigte auf sechs Apfelbäume, die genauso knorrig und mit Früchten überladen waren wie unsere, an der Pforte standen die beiden Hängebirken, und unten am See neigten sich drei Weiden über das Wasser. Er folgte meinem Blick.
    »Ihr habt Erlen.« Seine Stimme klang fast verärgert. »Zecken lieben Erlen, ich will die nicht haben. Zecken mögen auch hohes Gras. Gras und Erlen soll man kurz halten.«
    Der Alte ereiferte sich über alle Erlen, Prärien, Steppen und Savannen der Welt.
    »Hier muss man wohl erst mal mit einer Sense ran«, sagte ich. Das klang, als wäre ich Experte für verwilderte Gärten. »Das Gras ist zu hoch für den Rasenmäher.«
    Der Alte nickte.
    »Ich lass dir freie Hand. Mäh das Gras. Mehr will ich nicht von dir.«
    »Ich kann es morgen machen.«
    Er sah so zufrieden aus, als hätte ich versprochen, den Rasen mit der Nagelschere zu bearbeiten.
    »Vortrefflich.«
    Er musterte mich.
    »Du wohnst doch wohl nicht allein in Ellens Haus?«
    »Nein, zusammen mit meiner Mutter, meiner Schwester und einem Bruder.«
    Karl Berger nickte.
    »Meiner Halbschwester und meinem Halbbruder«, verdeutlichte ich, weil er mich so anstarrte.
    Er nickte wieder.
    »Ich hatte auch eine Schwester und einen Bruder. Die sind aber schon tot. So ist der Lauf der Welt. Darf ich dir etwas zu trinken anbieten? Ich hab Eistee im Kühlschrank.«
    »Danke, gern.«
    Er drehte sich langsam um, trottete in Zeitlupentempo davon und
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