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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind /
Autoren: Sabine Kuegler
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Toilette, die wir wegen des hohen Wasserverbrauchs aber selten spülen durften. Stattdessen holte Papa einen Eimer Wasser vom Fluss, den er neben die Toilette stellte.
     
    Als wir gerade dabei waren, unser neues Zuhause zu inspizieren, entdeckte Christian etwas Unheimliches an der Wand: eine riesige schwarze Spinne! Sie war so groß wie ein Steak. Wir starrten sie voller Faszination an. Papa rief, wir sollten uns nicht bewegen, und rannte, um ein Parang (ein langes Buschmesser) zu holen. Er kam zurück und ging auf die Spinne zu.
    »Nein, Papa«, schrie ich entsetzt, »ich will die Spinne behalten!« Aber es war zu spät – mit einem Hieb traf er das Tier und zerquetschte es an der Wand.
    »Oh, cool«, bemerkte Christian, »kuck mal, die Beine bewegen sich noch.«
    Die anderen waren angeekelt von diesem Anblick, und ich vergoss inzwischen Tränen darüber, dass ein so schönes Exemplar für meine Sammlung verloren war. Mama nahm uns kurzerhand wieder mit nach draußen, um den Abflug des Hubschraubers zu beobachten. Papa blieb im Haus und reinigte die verschmierte Wand.
    Die Sache mit der Spinne war schnell vergessen, es gab so viel Neues zu sehen und zu entdecken in dieser an Abenteuern überreichen Welt, in der ich von nun an leben würde. Draußen machte sich der Helikopter auf den Rückflug nach Danau Bira. Ich stand dort, bis ich den Motor nicht mehr hören konnte. Dann sah ich mich um, sah den breiten, kühlen Fluss, der an mir vorbeiströmte, die einzelnen Hütten der Fayu, den dunklen, dichten Urwald und schließlich unser neues Zuhause. Ich sah mich nach den Fayu-Männern um, die mich noch immer mit der gleichen Neugierde betrachteten, die auch ich ihnen gegenüber empfand.
    Links Papas Arbeitshütte, rechts das »Gästehaus«
     
    Ich weiß nicht mehr, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging, aber es muss mit Sicherheit etwas Schönes gewesen sein. Wie könnte auch eine so wunderbare Umgebung, ein so atemberaubendes, aufregendes Leben in Geborgenheit und Freiheit etwas Schlechtes mit sich bringen? Ich fühlte mich hier wohl, es war mein neues Zuhause.
    Noch Jahre danach hielt dieses Glücksgefühl an, auch in den schweren Zeiten, als ich mit dem Tod kämpfte. Es war das Leben, für das ich geboren war, ein Leben, das zu mir passte, ein Leben ohne Regeln und Stress, von dem ich heute noch träume.
    Und hier, bei dem erst vor kurzem entdeckten Fayu-Stamm, der für Kannibalismus und eine unvorstellbare Brutalität stand, einem Stamm, der noch in der Steinzeit lebte und der eines Tages lernen würde zu lieben, statt zu hassen, zu vergeben, statt zu töten; bei diesem Stamm, der ein Teil von mir wurde, wie ich ein Teil von ihm – hier änderte sich mein Leben. Ich war keine Deutsche mehr, war nicht mehr das weiße Mädchen aus Europa. Ich wurde eine Eingeborene, ein Fayu-Mädchen vom Stamm der Iyarike.
     
    An diesem Abend, als ich in meinem Bett lag, kam Papa zu mir, und zusammen sprachen wir ein Gebet, das ich noch heute gemeinsam mit meinen Kindern abends vor dem Schlafengehen bete. Ein Gebet, das mich durch all die Jahre begleitete und mir heute noch ein unvorstellbares Sicherheitsgefühl gibt:
    »Denn wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem HERRN : Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, dem ich vertraue. Der mich errettet von der Schlinge des Jägers und von der verderblichen Pest. Er wird mich mit seinen Fittichen decken, und Zuflucht werde ich haben unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild, dass ich nicht erschrecke vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen, vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die am Mittag Verderben bringt. Tausende fallen zu meiner Linken und Zehntausende zu meiner Rechten, so wird es doch mich nicht treffen.
    Es wird mir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich meinem Hause nähern. Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie mich behüten auf all meinen Wegen.«
    Psalm 91

Der Fayu-Stamm
    D ie erste Nacht verlief ruhig. Ich erwachte am nächsten Morgen in meinem Bett und konnte vom Fenster aus die Bäume am Rande des Urwalds sehen. Sie waren riesig und ragten weit über unser Haus hinaus. Ich lauschte den Vögeln, ihrem schönen Morgengesang, der geheimnisvoll klang und meiner Fantasie Flügel verlieh.
    Judith schlief noch. Es war ganz still im Haus. Nach einiger Zeit wurde es mir zu langweilig, und ich sprang aus dem Bett und sah
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