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Drucke Zu Lebzeiten

Drucke Zu Lebzeiten

Titel: Drucke Zu Lebzeiten
Autoren: Franz Kafka
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meistens jeder mit seiner Zeitung, im gemeinsamen
Wohnzimmer, wenn nicht Georg, wie es am häufigsten geschah, mit
Freunden beisammen war oder jetzt seine Braut besuchte.
       Georg staunte darüber, wie
dunkel das Zimmer des Vaters selbst an diesem sonnigen Vormittag war.
Einen solchen Schatten warf also die hohe Mauer, die sich jen- seits
des schmalen Hofes erhob. Der Vater saß beim Fen- ster in einer
Ecke, die mit verschiedenen Andenken an die selige Mutter
ausgeschmückt war, und las die Zei- tung, die er seitlich vor die
Augen hielt, wodurch er irgend eine Augenschwäche auszugleichen
suchte. Auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks, von
dem nicht viel verzehrt zu sein schien.
       „Ah, Georg!" sagte der
Vater und ging ihm gleich entgegen. Sein schwerer Schlafrock
öffnete sich im Ge- hen, die Enden umflatterten ihn –
„mein Vater ist noch immer ein Riese", dachte sich Georg.
       „Hier ist es ja unerträglich dunkel", sagte er dann.
       „Ja, dunkel ist es schon", antwortete der Vater.
       „Das Fenster hast du auch geschlossen?"
       „Ich habe es lieber so."
       „Es ist ja ganz warm
draußen", sagte Georg, wie im Nachhang zu dem Früheren, und
setzte sich.
       Der Vater räumte das Frühstücksgeschirr ab und stell- te es auf einen Kasten.
       „Ich wollte dir
eigentlich nur sagen", fuhr Georg fort, der den Bewegungen des alten
Mannes ganz verloren folgte, „daß ich nun doch nach
Petersburg meine Verlo- bung angezeigt habe." Er zog den Brief ein
wenig aus der Tasche und ließ ihn wieder zurückfallen.
    „Nach Petersburg?" fragte der Vater.
       „Meinem Freunde doch",
sagte Georg und suchte des Vaters Augen. – „Im
Geschäft ist er doch ganz anders", dachte er, „wie er hier
breit sitzt und die Arme über der Brust kreuzt."
       „Ja. Deinem Freunde", sagte der Vater mit Betonung.
       „Du weißt doch,
Vater, daß ich ihm meine Verlobung zuerst verschweigen wollte.
Aus Rücksichtnahme, aus keinem anderen Grunde sonst. Du
weißt selbst, er ist ein schwieriger Mensch. Ich sagte mir, von
anderer Seite kann er von meiner Verlobung wohl erfahren, wenn das auch
bei seiner einsamen Lebensweise kaum wahr- scheinlich ist – das
kann ich nicht hindern –, aber von mir selbst soll er es nun
einmal nicht erfahren."
       „Und jetzt hast du es dir
wieder anders überlegt?" fragte der Vater, legte die große
Zeitung auf den Fenster- bord und auf die Zeitung die Brille, die er
mit der Hand bedeckte.
       „Ja, jetzt habe ich es
mir wieder überlegt. Wenn er mein guter Freund ist, sagte ich mir,
dann ist meine glückliche Verlobung auch für ihn ein
Glück. Und des- halb habe ich nicht mehr gezögert, es ihm
anzuzeigen. Ehe ich jedoch den Brief einwarf, wollte ich es dir sagen."
       „Georg", sagte der Vater
und zog den zahnlosen Mund in die Breite, „hör' einmal! Du
bist wegen dieser Sache zu mir gekommen, um dich mit mir zu beraten.
Das ehrt dich ohne Zweifel. Aber es ist nichts, es ist ärger als
nichts, wenn du mir jetzt nicht die volle Wahr- heit sagst. Ich will
nicht Dinge aufrühren, die nicht hier- her gehören. Seit dem
Tode unserer teueren Mutter sind gewisse unschöne Dinge
vorgegangen. Vielleicht kommt auch für sie die Zeit und vielleicht
kommt sie früher, als wir denken. Im Geschäft entgeht mir
manches, es wird mir vielleicht nicht verborgen – ich will jetzt
gar nicht die Annahme machen, daß es mir verborgen wird –,
ich bin nicht mehr kräftig genug, mein Gedächtnis
läßt nach. Ich habe nicht mehr den Blick für alle die
vielen Sachen. Das ist erstens der Ablauf der Natur, und zwei- tens hat
mich der Tod unseres Mütterchens viel mehr niedergeschlagen als
dich. – Aber weil wir gerade bei dieser Sache sind, bei diesem
Brief, so bitte ich dich Georg, täusche mich nicht. Es ist eine
Kleinigkeit, es ist nicht des Atems wert, also täusche mich nicht.
Hast du wirklich diesen Freund in Petersburg?"
       Georg stand verlegen auf.
„Lassen wir meine Freunde sein. Tausend Freunde ersetzen mir
nicht meinen Vater. Weißt du, was ich glaube? Du schonst dich
nicht genug. Aber das Alter verlangt seine Rechte. Du bist mir im
Geschäft unentbehrlich, das weißt du ja sehr genau; aber
wenn das Geschäft deine Gesundheit bedrohen sollte, sperre ich es
noch morgen für immer. Das geht nicht. Wir müssen da eine
andere Lebensweise für dich einfüh- ren. Aber von Grund aus.
Du sitzt hier im Dunkel, und im Wohnzimmer hättest du
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