Dreimal Liebe
Atemzug seit Stunden an. Die Schatten unter seinen Augen waren dunkel, die Mimik seines Gesichts leer wie der Blick einer Statue. Er zog die Schultern hoch und begann zu laufen. Überallhin. Nirgendwohin. Ständig die Wärme, die er in Cathys Nähe verspürt hatte, in Erinnerung, und verfolgt von dem Gefühl, gar nicht weit genug davor fliehen zu können. Louis’ Augen und der kindliche, gebrochene Ausdruck darin schwebten wie eine Gewitterwolke über ihn, der Anblick der toten Katze klebte wie Blut in seinem Nacken.
Joel verschwand mit jedem Schritt weiter im Nebel, der die Stadt wie ein dichter Schleier unter sich zu verbergen drohte, und doch fühlte er sich, als käme er keinen Zentimeter voran.
Die Leute, die seinen Weg passierten, wechselten. Erst waren es meist Jogger, eine Stunde später machte sich die Arbeiterschicht auf die Beine und gegen Mittag waren die Straßen belebt wie eh und je. Der Nebel löste seine wabrigen Finger von der Stadt, machte Platz für die Auspuffgase, und Joels Gedanken verhallten ungehört im Stimmenmeer der zahlreichen Passanten.
Gegen Nachmittag, an einem kleinen Stand, ließ er unbemerkt ein Brötchen mitgehen. Die eine Hälfte aß er selbst, die andere Hälfte verfütterte er an Tauben. Am späten Nachmittag gelangte der junge Mann in den Stadtteil Sheepshead Bay, steuerte durch die beschauliche, an ein Fischerdorf erinnernde Gegend auf den Hafen zu, und setzte sich dort auf das eiserne Geländer. Der Wind brachte das Wasser zu seinen Füßen in wellende Bewegung und er schob die Hände in die Ärmel. Nicht mehr lange, bis der Herbst sich verabschieden und dem Winter den Weg ebnen würde. Es wäre der vierte, den er auf der Straße verbrachte. Seinem Empfinden nach waren die Winter von Mal zu Mal härter geworden, die Temperaturen klirrender, die übriggebliebene Herzlichkeit der Menschen zu einem Eiszapfen erfroren. Der Zeitraum von Oktober bis März konnte sich wie Jahre in die Länge ziehen.
Joel dachte zurück, viele, viele Jahreszeiten, bis er sich selbst als kleinen Jungen vor sich sah. Früher hatte er seine Winter in Heimen oder bei Pflegefamilien verbracht, früher hatte er noch nicht gewusst, dass Lippen vor Kälte blau werden und dass Gliedmaßen erfrieren und für immer absterben konnten, so wie im letzten Dezember bei Nate die Zehen.
Hätte Joel sich damals bei den Pflegefamilien nicht so benommen, wie er sich benommen hatte … vielleicht hätte ihn dann eine dieser Familien behalten.
Vielleicht hätte er jetzt eine Zukunft.
Joel senkte den Kopf und sein Blick verschwamm mit dem Wasser, drang durch die Oberfläche hindurch, bis zu einer Stelle, die nur er sehen konnte.
Die Wolken am Himmel zogen vorüber, der Wind nahm an Kälte zu und die Sonne entfernte sich mit ihren ohnehin schon schwachen Strahlen immer mehr vom Firmament. Im Hafen kehrte Ruhe ein, die Touristen verschwanden, die Fischerboote wurden fein säuberlich an den Stellplätzen angelegt, und bald war Joel der einzige, der im Laternenschein noch unten am Wasser saß. Er dachte an Cathy, an ihr zierliches Wesen, an ihre Stimme, an ihren Hintern, der gegen seinen streifte, er dachte an Louis, an Cecile, und wäre am liebsten auch für den Rest der Nacht dort sitzen geblieben. Doch es wurde kalt. Die Temperatur ließ seine Gelenke schmerzen und die Glieder steif werden.
Selbst als er entlang der Promenade schlenderte, wollte noch kein Leben in seine Beine zurückkehren. Auf der Höhe einer Laterne hielt er plötzlich in seiner Bewegung inne. Ein Zettel hing an dem dunkelgrauen Mast, vom Wetter leicht gezeichnet und vergilbt. Darauf war ein Mädchen abgebildet, und direkt darunter der verzweifelte Aufruf einer Mutter. Joel stand lange vor dem Zettel, viel länger, als das Lesen des Textes an Zeit bedurfte. Würde man es nicht besser wissen, man würde den jungen Mann mit einer reglosen Skulptur verwechseln.
Irgendwann griff er nach dem Zettel, riss ihn ab, faltete ihn fein säuberlich zusammen, steckte ihn in die Hosentasche und setzte seinen Weg fort. Wenn das möglich war, wirkten seine Schritte jetzt noch schwerer als zuvor.
Der Mond schien grell und tauchte die Lagerhalle in ein silbernes Licht. Nate und Sherly hatten die karierte Decke über die Köpfe gezogen, Joel hörte die beiden Atmen, schneller als normal, und die Decke bewegte sich gleichmäßig auf und ab. Wie jedes Mal tat der Junge so, als würde er nichts mitbekommen, und ging auf sein eigenes Bett zu. In Louis’ Ecke war es
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