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Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski

Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski

Titel: Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski
Autoren: Stefan Zweig
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einzigen, den der Herzogin von Cadignan. Aus hundert Bankiers den Baron von Nucingen, aus allen Wucherern den Gobsec, aus allen Ärzten den Horace Bianchon. Er läßt diese Menschen enger beieinander wohnen, häufiger sich berühren, vehementer sich bekämpfen. Wo das Leben tausend Spielarten erzeugt, hat er nur eine. Er kennt keine Mischtypen. Seine Welt ist ärmer als die Wirklichkeit, aber intensiver. Denn seine Menschen sind Extrakte, seine Leidenschaften reine Elemente, seine Tragödien Kondensierungen. Wie Napoleon beginnt er mit der Eroberung von Paris. Dann faßt er Provinz nach Provinz – jedes Departement sendet gewissermaßen seinen Sprecher in das Parlament Balzacs – und dann wirft er wie der siegreiche Konsul Bonaparte seine Truppen über alle Länder. Er greift aus, sendet seine Menschen an die Fjorde Norwegens, in die verbrannten, sandigen Ebenen Spaniens, unter den feuerfarbenen Himmel Ägyptens, an die vereiste Brücke der Beresina, überallhin und noch weiter greift sein Weltwille wie der seines großen Vorbildners. Und so wie Napoleon, ausruhend zwischen zwei Feldzügen, den Code civil schuf, gibt Balzac, ausruhend von der Eroberung der Welt in der »Comedie humaine«, einen Code moral der Liebe, der Ehe, eine prinzipielle Abhandlung und ziehtüber die erdumspannende Linie der großen Werke noch lächelnd die übermütige Arabeske der »Contes drôlatiques«. Vom tiefsten Elend, aus den Hütten der Bauern wandert er in die Paläste von St. Germain, dringt in die Gemächer Napoleons, überall reißt er die vierte Wand auf und mit ihr die Geheimnisse der verschlossenen Räume, er rastet mit den Soldaten in den Zelten der Bretagne, spielt an der Börse, sieht in die Kulissen des Theaters, überwacht die Arbeit des Gelehrten, kein Winkel ist in der Welt, wo seine zauberische Flamme nicht hinleuchtet. Zwei- bis dreitausend Menschen bilden seine Armee, und tatsächlich: aus dem Boden hat er sie gestampft, aus seiner flachen Hand ist sie aufgewachsen. Nackt, aus dem Nichts sind sie gekommen, und er wirft ihnen Kleider um, schenkt ihnen Titel und Reichtümer, wie Napoleon seinen Marschällen, nimmt sie ihnen wieder ab, er spielt mit ihnen, hetzt sie durcheinander. Unzählbar ist die Vielfalt der Geschehnisse, ungeheuer die Landschaft, die hinter diese Ereignisse sich stellt. Einzig in der neuzeitlichen Literatur, wie Napoleon einzig in der modernen Geschichte, ist diese Eroberung der Welt in der »Comédie humaine«, dieses Zwischen-zwei-Händen-Halten des ganzen, zusammengedrängten Lebens. Aber es war der Knabentraum Balzacs, die Welt zu erobern, und nichts ist gewaltiger als früher Vorsatz, der Wirklichkeit wird. Nicht umsonst hatte er unter ein Bild Napoleons geschrieben: »Ce qu'il n'a pu achever par l'épée je l'accomplirai par la plume.«
    Und so wie er sind seine Helden. Alle haben sie das Welteroberungsgelüst. Eine zentripetale Kraft schleudert sie aus der Provinz, aus ihrer Heimat, nach Paris. Dort ist ihr Schlachtfeld. Fünfzigtausend junge Leute, eine Armee, strömt heran, unversuchte keusche Kraft, entladungssüchtige, unklare Energie, und hier, im engen Räume prallen sie aufeinander wie Geschosse, vernichten sich, treiben sich empor, reißen sich in den Abgrund. Keinem ist ein Platz bereitet. Jeder muß sich die Rednerbühne erobern und dies stahlharte, biegsame Metall, das Jugend heißt, umschmieden zu einer Waffe, seine Energien konzentrieren zu einem Explosiv. Daß dieser Kampf innerhalb der Zivilisation nicht minder erbittert ist als der auf den Schlachtfeldern,dies als erster bewiesen zu haben, ist der Stolz Balzacs: »Meine bürgerlichen Romane sind tragischer als eure Trauerspiele!« ruft er den Romantikern zu. Denn das erste, was diese jungen Menschen in den Büchern Balzacs lernen, ist das Gesetz der Unerbittlichkeit. Sie wissen, daß sie zuviel sind, und müssen sich – das Bild gehört Vautrin, dem Liebling Balzacs – auffressen wie die Spinnen in einem Topf. Sie müssen die Waffe, die sie aus ihrer Jugend geschmiedet haben, noch eintauchen in das brennende Gift der Erfahrung. Nur der Überbleibende hat recht. Aus allen zweiunddreißig Windrichtungen kommen sie her wie die Sansculotten der »Großen Armee«, zerreißen sich die Schuhe auf dem Wege nach Paris, der Staub der Landstraße klebt an ihren Kleidern, und ihre Kehle ist verbrannt von einem ungeheuren Durst nach Genuß. Und wie sie sich umsehen in dieser neuen, zauberischen Sphäre der Eleganz, des Reichtums und der
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