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Dracyr – Das Herz der Schatten

Dracyr – Das Herz der Schatten

Titel: Dracyr – Das Herz der Schatten
Autoren: Susanne Gerdom , Susanne
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sie spuckte aus. Wie der Körper ihres Bruders. Sie hatte gleich nach ihrer Ankunft in der Stadt vor dem Burgtor gestanden und nach seinem Kopf gesucht, aber die Raben hatten ihr Werk zu gründlich getan, wie auch die Witterung und die Fäulnis. Die zerfleischten, faulenden Schädel, deren Knochen bleich durch den Dunst schimmerten, die strähnigen Reste von Haar, dessen Farbe unter Schmutz und verklebtem geronnenen Blut nicht mehr zu erkennen war, die leeren Augenhöhlen… keiner dieser toten Köpfe hatte noch Ähnlichkeit mit dem Menschen, der er einmal gewesen war. Wenn Bradans Kopf hier zwischen den anderen steckte, dann war er inzwischen ebenso unkenntlich geworden wie die seiner Gefährten im Tode.
    Ihre Augen waren trocken und heiß, die ungeweinten Tränen von Jahren drückten wie Mühlsteine und kratzten wie ungekämmte Wolle. Sie rieb sich mit dem Handballen über die Lider und straffte die Schultern. Ihr Lebensweg verengte sich von einem steinigen, aber immerhin freien Pfad zu einem engen Durchgang, nicht breiter als die Passage, in der sie sich nun versteckte wie eine gejagte Meuchlerin. Es gab keine Abzweigungen mehr, keine Möglichkeiten, vom Pfad abzuweichen und einen neuen Weg einzuschlagen, der unvermutet neue, überraschende Perspektiven bot. Von jetzt an konnte sie nur noch einen Fuß vor den anderen setzen und dem Weg folgen, der sie pfeilgerade auf das letzte Ziel zuführte. Danach wartete keine Zukunft mehr auf sie, nur Dunkelheit und Schmerz, der Tod.
    Sie lächelte. Der Tod schreckte sie nicht. Sie war Karolyn Devrillan, sechzehn Jahre alt, Tochter des hingerichteten Lordkanzlers Morrin Devrillan, Schwester des Aufrührers Bradan Devrillan. Ihre Liebsten waren ihr auf diesem düsteren Weg vorangegangen und erwarteten sie nun an der letzten Schwelle. Sie würde ihnen mit stolz erhobenem Kopf entgegentreten und sagen: Ehe ich starb, habe ich euch gerächt!
    Das Rumpeln von Rädern auf dem Kopfsteinpflaster weckte ihre Aufmerksamkeit. Ein Schatten fiel über den Durchgang und der dazugehörige Körper versperrte ihr den Ausblick. Sie zog sich weiter in die Dunkelheit zurück, trat in etwas Weiches, das nach Aas und Fäulnis stank, und unterdrückte nur mit Mühe einen angewiderten Ausruf.
    Â» Mistress? « Der Mann spähte in die Schatten. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie erkannte die Stimme. » Mistress Karolyn? «
    Â» Warren « , sagte sie erleichtert, » ich bin hier. « Sie schabte ihren Schuh an der Hauswand, um den stinkenden Unrat wenigstens teilweise zu entfernen, und wartete, dass der grobknochige Bursche ihr den Weg freigab.
    Er stand neben seinem Pferdekarren und nahm die Kappe ab, als er sie erblickte. Sie bedeutete ihm, seinen Kopf wieder zu bedecken, und sagte gedämpft: » Nenn mich nicht ›Mistress‹, Warren. Das ist zu gefährlich. Ich heiße Kay. «
    Der Mann blinzelte verlegen und leckte sich über die Lippen. » Das gebührt sich nicht, Mistr…Kay. «
    Â» Doch, das tut es, Warren « , erwiderte sie fest. Ihre Stimme nahm unwillkürlich den strengen Tonfall an, den ihre Tante Gabrielle den Dienstboten gegenüber anzuschlagen pflegte. » Ich bin deine Cousine Kay aus Corysville, und du bringst mich in die Burg, damit ich mich der Haushälterin vorstellen kann. «
    Er nickte zweifelnd und wies mit einer unbeholfenen Handbewegung auf den Karren. Kay stellte den Fuß auf die unterste Querstrebe und ließ zu, dass Warren sie nach kurzem Zögern mit einem beherzten Griff um die Taille auf den Bock hob. Dann sprang er selbst hinauf, griff nach dem Zügel und schnalzte mit der Zunge. Der senkrückige braune Gaul, der mit hängendem Kopf gewartet hatte, zog an, und sie holperten im Schneckentempo durch die Gasse.
    Â» Ihr wisst Bescheid, Mistress… Kay? « , eröffnete Warren nach einer Weile das Gespräch. » Ihr– hm– du wirst schmutzige und schwere Arbeit tun müssen. Die Haushälterin suchte nach einem Mädchen, das gut anpacken kann. « Er warf einen Blick auf Kays Hände, die sie im Schoß gefaltet hielt.
    Sie zuckte die Achseln. Der grobe Wollstoff ihres Mieders kratzte auf ihrer Haut. » Ich habe lernen müssen anzupacken « , erwiderte sie schroff. » Auf einem Gut ist immer mehr als genug Arbeit. « Sie dachte an die Stunden, die sie in den letzten beiden Jahren im Stall verbracht
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