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Draculetta: Eine Bestürzung in Transsylvanien (German Edition)

Draculetta: Eine Bestürzung in Transsylvanien (German Edition)

Titel: Draculetta: Eine Bestürzung in Transsylvanien (German Edition)
Autoren: Stephanie Reimertz
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am nächsten Tag wieder zum Marsfeld und ging, den Kopf in den Nacken wie Hans-Guck-in-die-Luft unter den gespreizten Beinen der eisernen Lady hindurch; ja meine Hochnäsigkeit ging so weit, daß ich ein Billett löste und auf den Turm hinauffuhr, bis zur höchsten zugänglichen Plattform, wo mich dann doch beim Blick hinunter der Wonnegraus befiel, das Gefühl, irgendetwas ziehe mich unwiderstehlich hinab, bedrohe mich mit dem Fall, den ich nur mit einem freiwilligen Sprung abwenden könne. Aber offenbar gibt es noch mehr Leute wie mich, denn der französische Staat hat sich gezwungen gesehen, durch allerhand Gitter und Netze solcher Art von Tourismus Einhalt zu gebieten. Der herrliche Blick auf die Stadt, ihre weißen Bauten und die sich zum Meer schlängelnde Seine verschafften mir ein atemloses Vorgefühl meiner Tätigkeit als Frauenarzt in Paris. Hier oben ahnte ich, was es heißt, mehr von der Welt zu sehen als andere Sterbliche.
    Der Wechsel des Studienortes und -faches stellte kein Problem dar. Österreich ist weniger bürokratisch als man denkt, das sollte ich später in Frankreich noch einsehen, und die Mitarbeiter im Akademischen Auslandsamt der Universität Wien halfen mit allen Papieren. Allerdings fragte mich der alte Beamte über seine Brille hinweg, warum ich denn ausgerechnet in Paris studieren wolle, gerade die Frauenheilkunde sei doch in jedem Land die gleiche. Ich erwiderte, sie sei wohl in der Tat die gleiche, nur erschiene sie mir in Frankreich interessanter, wie mir überhaupt in diesem Land alles interessanter erschien als anderswo.
    Zudem nutzte ich den Studienortwechsel auch zu einem Namenswechsel. Ich war auf Richard Jonathan Abraham Völklinger getauft, und während mir meine drei Vornamen recht sind, störte mich der Nachname. Die Völklingers sind ein bekannter deutschnationaler Clan in Südkärnten; meine Kollegen in Wien hatten mich so oft mit meinem Familiennamen aufgezogen, daß ich nicht länger Völklinger heißen wollte, auch wenn in Paris die Gefahr einer Bekanntheit dieser Sippe gering war. Mein Vater und seine Brüder und Cousins verteidigten an den Karawanken die großdeutsche Idee gegen Slowenen und Italiener, als befänden sie sich immer noch im Kärntner Freiheitskampf. In ganz Österreich lachte man damals noch über diese Kreise. Völklinger zu heißen gefiel mir also nicht, und so nannte ich mich fortan Entenschnabel.
    Wie mein österreichischer Landsmann Freud schloß auch ich meine Pariser Studien in kurzer Zeit mit Erfolg ab. Es störte mich allerdings, daß ich die ganze Medizin studieren mußte und mich nicht auf die Frauenheilkunde beschränken konnte. Die meisten Organe des menschlichen Körpers, zumal des männlichen, interessieren mich nicht die Bohne, aber ich mußte auch diese lernen. Das Leben in Frankreich ist schön, und die Luft von Paris verspricht Freiheit und Abenteuer, besonders wenn man aus Maria Elend kommt. Als Assistenzarzt im Krankenhaus lernte ich eine Kollegin aus der Bretagne kennen und lieben, wir heirateten, bekamen drei Kinder, und ich eröffnete in der Nähe vom Boulevard Saint-Michel eine Ordination.
    In den ersten Jahren war ich glücklich; es war mir gelungen, Frauenarzt in Paris zu werden und mehr von der Welt zu sehen als andere Sterbliche. Mein Grauen vor allem, was einem Loch ähnelte, wurde im beruflichen Alltag auf ein Mindestmaß reduziert. Dafür war ich in die Lage versetzt, Beobachtungen zu machen, die anderen verschlossen blieben und Betrachtungen anzustellen, auf die normale Menschen nicht kamen. Bereits als Student der Geschichte, Literatur, Mathematik und Physik und besonders in meiner Tätigkeit als Journalist und Theaterkritiker in Wien war ich Frauenbekanntschaften ausgesetzt gewesen und hatte mich diesen Ansinnen nicht immer entziehen können. So bekam ich schon damals einen Blick in die Tiefen des Gesellschaft. Ich suchte meine Lochphobie zu heilen, indem ich mir sagte, daß es ein Loch als solches nicht gäbe, daß es vielmehr durch sein Umfeld erschaffen werde. Das Loch als solches sei eine geistige Nullnummer, ein Nichts, ein Zero; es definiere sich dadurch, daß etwas nicht sei, und nur das Umfeld schaffe seinen Charakter. Eine meiner Studienkolleginnen, der ich diese Weisheit bei einem Glas Grünen Veltliner am Spittelberg vortrug, sagte mir, damit hätte ich auch die Grundsätze der Soziologie begriffen; diese war nämlich ihr Studienfach.
    Wer tief ins Loch geschaut hat, der lernt also auch, auf die Umgebung, ja
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