Drachen-Mädchen
fähig war. So stand sie reglos da, den Samen zwischen Daumen und Zeigefinger, und beobachtete den Riesenvogel.
Der Vogel schwebte hinab, streckte ein Bein vor und packte sie mit seinen Klauen, um sie in die Luft zu heben. Das tat nicht weh, denn die Klauen, waren wie schwere Metallstäbe, die sie gitterartig umklammerten, anstatt sie zu quetschen.
Endlich reagierte Irene. Sie schleuderte den Samen hinab und rief: »Wachse!« Doch sie wußte nicht einmal, um welchen Samen es sich dabei handelte.
Das war ein Rokh, der größte aller Vögel! Was hatte er mit ihr vor? Normalerweise machten Rokhs keine Jagd auf Menschen, denn sie brauchten größere Happen, um satt zu werden, genau wie Drachen und mundanische Elefanten.
Nachdem er in wenigen Sekunden eine schwindelerregende Höhe erreicht hatte, ging der Rokh nun wieder herunter. Er stieß in die Tiefe, zog einen kurzen Bogen und setzte Irene dicht über dem Boden ab. Dann stieg er mit einem mächtigen Windstoß seiner Flügel, der Irene mehrere Schritte zurücktaumeln ließ und ihre Frisur ruinierte, wieder in die Höhe.
»Vogelhirn!« schrie sie ihm erzürnt nach. »Daß dir doch eine Riesenfeder im Schnabel steckenbleibe!« Ausgerechnet jetzt mußte das passieren, wo sie doch gerade den Magier Humfrey aufsuchen wollte!
Plötzlich hielt sie inne, als sie begriff, was los war. Das war überhaupt kein Zufall, sondern es gehörte zu den Verteidigungsanlagen des Schlosses! Alle Besucher mußten erst drei Hindernisse überwinden, bevor sie ins Schloß gelangten, weil der Gute Magier Humfrey es nicht liebte, wegen irgendwelcher Kleinigkeiten belästigt zu werden. Wer mit ihm sprechen wollte, mußte beharrlich sein, bis er ins Innere des Gebäudes gelangte. Zumindest theoretisch. Humfrey war ein mundfauler Gnom von einem Mann, der alles auf seine Weise machte. Niemand verstand ihn wirklich, mit der möglichen Ausnahme seiner Frau, der Gorgone.
Doch Irene war Königin von Xanth. An sich hätte ihr diese unwürdige Behandlung erspart bleiben müssen! Die wandernde Illusion, der Rokh – das war etwas für das gemeine Volk.
Sie überlegte. Das gemeine Volk? Vorsicht vor königlichem Dünkel!
Schließlich war sie nur die Frau, die den König geheiratet hatte, und im Augenblick hatte sie ein persönliches Anliegen. Sie durfte sich keine Privilegien anmaßen, die nicht auch dem bescheidensten Bürger Xanths zugestanden hätten.
Nein, sie würde diese Herausforderungen schon in die Knie zwingen. Eine hatte sie bereits besiegt, nämlich die Illusion. Nun mußte sie sich mit der zweiten befassen.
Offensichtlich war es die Aufgabe des Rokh, alle Eindringlinge zu ergreifen und weitab vom Schloß wieder abzusetzen. Also mußte sie diesen Vogel ausschalten – aber wie? Der Rokh war viel zu kräftig, als daß eine Pflanze, wenn es nicht gerade ein Gewirrbaum war, ihn hätte mattsetzen können, und außerdem wollte sie ihm nicht weh tun. Schließlich hatte er sie ja auch nicht verletzt. Das hier war viel eher eine Art Spiel als ein Kampf.
Sie überprüfte den Inhalt ihres Beutels. Purpurzwiebeln – unbrauchbar. Sodamohn – nein. Nachtlilien – auch nicht.
Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie hatte eine Rockgartenausrüstung dabei! Damit könnte es gehen.
In der Ferne hörte sie ein ekliges Geräusch. Sie verzog die Nase. Das war das Rülpsen eines Stinkhorns! Wahrscheinlich der Samen, den sie über dem Schloß abgeworfen hatte. Sie konnte das üble Signal dazu nutzen, das Schloß sofort zu orten.
Irene marschierte zum Schloß zurück. Das dauerte eine Weile, weil der riesige Vogel eine recht weite Strecke in der kurzen Zeit zurückgelegt hatte. Als sie wieder am Grabenrand stand, ließ sie den Samen auf den Boden fallen. »Wachsen!«
Die Rockgruppe blühte auf. Rockmoos überzog teppichartig den Boden, bunte, kristalline Steinröcke dehnten sich schillernd aus. Sand formte winzige Dünen, und kleine Bächlein sprangen hervor. Seltsame Musik erklang, die ganz entfernt an den Lärm aus der Juckbox der Zwillinge erinnerte, aber etwas härter war. Irene verstand die Rockmusik zwar nicht, aber das war ja auch nicht nötig.
Nun ließ sie eine Wasserlilie im Graben wachsen, die sofort eine Reihe widerstandsfähiger Blätter ausbreitete, auf denen sie das Wasser würde überqueren können. Sie machte sich sofort daran.
Im gleichen Augenblick erschien auch schon der Rokh, doch diesmal war sie vorbereitet. »Guck mal da, Vogel«, sagte sie. »Ein Rokhgarten.«
Der Vogel schaute
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