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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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meinte schließlich in einem Brief, das »wilde« Resultat enthalte immerhin an die hundert Seiten, auf die er »stolz« sei.
    Die Erniedrigten und die Beleidigten sind ein bewusst sensationell, sentimental und sozialkritisch gehaltener Roman, der die zur europäischen Mode gewordene Großstadtmisere effektvoll ins Bild bringt. Schauplatz ist Petersburg, die Brutstätte jener »düsteren und qualvollen Geschichten, die sich so oft und unbemerkt, fast heimlich unter seinem lastenden Himmel begeben, in den dunklen, verschwiegenen Winkeln der großen Stadt, inmitten des unabsehbar siedenden Lebens, inmitten des blinden Egoismus, der gegenläufigen Interessen, der finsteren Ausschweifungen, der sorgsam gehüteten Verbrechen, inmitten dieser unerträglichen Hölle sinnlosen und unmoralischen Lebens.« Dostojewskij verfeinert hier sein erzähltechnisches Instrumentarium. Das Resultat ist noch ziemlich heterogen; die Stärke liegt in den Einzelszenen und im Aufbau einzelner Charaktere.
    Integrierende Figur ist der Ich-Erzähler Iwan Petrowitsch, ein desillusionierter Romanschriftsteller, der, todkrank im Hospital, seine Erinnerungen zu Papier bringt. In ihnen verflechten sich zwei Geschehniskomplexe. Die Geschichte beginnt mit dem Tod des alten Smitt, einer um den Verstand gekommenen Elendsgestalt der Petersburger Slums. Der völlig allein zurückbleibenden dreizehnjährigen Enkelin des Verstorbenen nimmt sich der Erzähler an. Die psychologische Gestaltung seiner verhaltenen Zuneigung zur verschlossenen, frühreifen und an Epilepsie leidenden Nelly gehört zweifellos zu den echten Leistungen des Werks. Nelly stirbt schließlich, und der Erzähler erfährt, dass sie die Tochter des Fürsten Walkowskij ist, der ihre Mutter einst um ein Vermögen betrog und der Armut preisgab. Fürst Pjotr Walkowskij, ein zynischer und heuchlerischer Mann, ist auch maßgebend am zweiten großen Geschehniskomplex beteiligt: Sein willensschwacher Sohn Aljoscha wird von Natascha Ichmenjewa, der Tochter aus lange schon verarmtem Adelshaus, fast mütterlich geliebt. Walkowskij hintertreibt systematisch diese Beziehung, da er seinem Sohn eine reiche Erbin zugedacht hat, und Aljoscha verlässt schließlich seine entführte Geliebte. Der Erzähler, der mit Natascha aufwuchs und eine Zeitlang mit ihr verlobt war, wird, gequält, aber ohne Hass, zum Intimzeugen ihrer Zuneigung zu Aljoscha. So mündet für die drei Zentralfiguren: den Erzähler, Natascha und Nelly, all ihr Hoffen in bitterste Frustration. Der Erzähler Iwan Petrowitsch ist eine direkte Fortsetzung der Figur des Träumers in Dostojewskijs Frühwerk, der zum Leben die Haltung eines Voyeurs bezieht und seine Kränkungen masochistisch mit sich herumträgt.
    Dostojewskij hat nun mit dem Jahre 1862 sowohl seine Erzähltechnik durchtrainiert als auch seine Thematik mit den Eckpfeilern von Kriminologie und Christentum in Anschlag gebracht. Dostojewskij, der Ideologe, und Dostojewskij, der Meister der Spannung, stehen bereit, auf die Zielgerade der fünf großen Romane einzuschwenken, die alle von der gleichen »machiavellistischen Poetik« getragen werden. Das bedeutet: der Psychopathologe des Verbrechens, verbunden mit dem christlichen Propheten des russischen Nationalismus und Imperialismus, und der Spannungstechniker, Formsucher und narrative Tüftler wollen jetzt zusammen auftreten. Beide zusammen ergeben sie das spezielle Phänomen »Dostojewskij«. Die Erniedrigten und die Beleidigten sind die ideologisch harmlose Generalprobe des Tüftlers, und das Tote Haus enthält das Programm des Ideologen nicht ohne Mithilfe des Tüftlers.
    Mit den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) nimmt Dostojewskij gleichsam Maß innerhalb des Koordinatennetzes der geistigen Situation der Zeit und setzt dann an zum Marathon der fünf großen Romane, die zwischen 1866 und 1880 veröffentlicht werden. Die Großform des Romans nimmt von Verbrechen und Strafe bis zu den Bösen Geistern an Umfang immer mehr zu, an äußerem Umfang, der im Grünen Jungen etwas zurückgeht und dann in den Brüdern Karamasow sein höchstes Ausmaß erreicht. Und doch sind die Brüder Karamasow , wie sie nun vorliegen, nur der erste Band einer »Chronik«, die ja das Schicksal der Titelfiguren bis an die Schwelle der achtziger Jahre fortsetzen sollte. Mit seinem letzten Werk hatte sich Dostojewskij auf ein Großprojekt eingelassen, das er nicht mehr zu Ende führen konnte. Herausgekommen wäre ein Pendant zu Tolstojs Krieg und
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