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Don Juan de la Mancha

Don Juan de la Mancha

Titel: Don Juan de la Mancha
Autoren: Robert Menasse
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Kind. Plötzlich ist es erwachsen. Biologisch. Aber im Kopf? Ein Kind. Seelisch? Ein Zwitter. Die ganze Kindheit ist eine Ausbildung zum perfekten Kindsein, am Ende der Kindheit wird man aus dieser Ausbildung entlassen und soll, als ausgebildetes Kind, kein Kind mehr sein. Das ist, als würde man nach Jahren des Fußballtrainings die Lizenz zum Bobfahren bekommen. Und runter den Eiskanal. Ich habe Angst! Warum? Du bist doch erwachsen?
    Ich misstraue allen Menschen, bei denen man sich nicht mehr vorstellen kann, dass sie einst Kinder gewesen sind. Ich misstraue also fast allen. Am allermeisten Männern mit Bart. Bärte sind Affenmasken auf Kindergesichtern.
    Silber. Er redete ununterbrochen. Er heißt ja nicht Gold, sagte Vater. Man konnte Silber nichts vormachen. Er scheffelte ein Vermögen und damit beglaubigte er, dass er die Welt verstand und beherrschte. Er hatte einen Sohn in meinem Alter. Ich durfte an den Samstagen, an denen ich bei Vater war, mit Silber junior spielen. Heute darfst du wieder mit Gregor spielen, sagte mein Vater, wenn er mich abholte. Aber es spielten nur die Väter. Karten. Die Silbers hatten ein englisches Kindermädchen, da waren die Kinder unter Aufsicht. Das Kindermädchen beaufsichtigte einen privaten Tennislehrer, der dem verwöhnten, x-beinigen Unternehmersohn auf dem privaten Tennisplatz mechanisch gelbe Bälle zuspielte, die ich einsammeln durfte. Dann duschen. Ich war völlig verschwitzt, Gregor nicht im Mindesten. Wie angewurzelt stehend, hatte er die Bälle, die der Lehrer ihm zugeworfen hatte, in alle Richtungen weggeschlagen. Ich war hin und her gelaufen, um sie einzusammeln.
    Als er schon Schamhaare bekam und ich noch nicht, nannte er mich verächtlich »Bubi«. Er fand es völlig normal, dass er aufgrund all seiner Privilegien auch das Privileg der Frühreife hatte.
    Nach dem Duschen wurden wir von Miss Summerled wieder zu den Vätern gebracht. Sie spielten ihre Kartenpartie zu Ende.
    Ich fühlte mich gedemütigt, wegen der Schamhaare und überhaupt, aber zugleich begann ich Mitleid mit den Silbers zu empfinden. Mitleid, so stark wie Todesangst. Es hatte auch mit Tod zu tun. Das Kartenspielen am Samstag war das einzige regelmäßige Vergnügen, das sich Silber leistete. Sonst tat er nichts als Geld scheffeln, Geld vermehren. Dabei wurde er älter, krank, moribund, irgendwann würde er tot sein. Dann wird alles auf Gregor kommen, und dieser wird es weiter vermehren oder verlieren. Aber was wird bleiben vom Leben dieser Menschen? Nicht einmal ein nach ihnen benannter Tennisball. Die Tennisbälle hießen bereits Slazenger oder Dunlop. Mich erfasste eine ungeheure Beklommenheit. Das Leben, dachte ich, ist erst vollständig und erfüllt, wenn es auch ein Nachleben produziert. Das hatten selbst hochvermögende Welterklärer und -beherrscher wie Silber nicht bedacht. Sie lebten wie in einer Gelddruckerei, das Geld war ihres – aber auf den Scheinen waren andere abgebildet. Ich wollte lieber der sein, der auf einem Geldschein abgebildet ist, als der, dem die Taschen vom Geld überquellen.
    Mein Vater lachte auf. Er hatte gewonnen. Er gewann immer. Er konnte sich die Karten, die gefallen waren, merken wie Partygäste, die gegangen waren. Er hatte immer den Überblick, wer noch da war. Er wusste, wer in kürzester Zeit sehr wichtig sein würde. Es machte ihm Spaß, die Mine auszubeuten. Silber schrieb einen Scheck. Plötzlich liebte ich meinen Vater. Für ihn war das Kartenspiel am Samstag nicht das einzige Vergnügen, sondern bloß ein Vergnügen am Samstag. Er wollte immer nur sein Vergnügen. Und er schien es auch genießen zu können. Er war ja immer vergnügt. Außer er war mit mir allein. Plötzlich verstand ich, dass das kein Vergnügen sein konnte für einen Mann wie ihn. Mit mir, das war kein Honiglecken, mit meinen Ängsten, mit meiner Schwermut. Aber: in der Schule hatte ich damals gerade von den alten Griechen gelernt. Nun empfand ich Vaters Vergnügungssucht mit all ihrem Desinteresse an den Beschwernissen des Lebens als moderne Variante des Stoizismus: So konnte man das Leben zum Tod gelassen ertragen. Und: Er hatte mich gezeugt, der, anders als die Silbers, wusste, dass es am Ende darum ging, etwas zu hinterlassen, das blieb. Nicht in der Familie. Welche Familie? Sondern in der Welt. Ich hatte an diesem Nachmittag die Verantwortung für das Nachleben übernommen. Die Todesangst verschwebte. Aber leichtlebiger machte mich das nicht.
    12.
    Wissen Sie, was seltsam ist,
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