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Don Juan de la Mancha

Don Juan de la Mancha

Titel: Don Juan de la Mancha
Autoren: Robert Menasse
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herumsprangen und sich verrenkten. Ich begriff erst später, dass es damals dazugehörte, verächtlich zu wirken, gelangweilt, erhaben. Ständig musste man sich an Orte begeben, um dort zu demonstrieren, dass man es nicht nötig hatte, hierherzukommen. Es war eine Scheißzeit. Was waren das für Ängste, die sich hinter dieser demonstrativen kalten Gelangweiltheit versteckten? Ich sah die Ängste der anderen nicht, ich spürte nur meine eigenen.
    Jetzt aber sah ich nur sie, das Mädchen mit der blitzenden Gürtelschnalle. Ich ging zu ihr hin, um sie anzusprechen. Als ich vor ihr stand, sie mich überrascht anschaute, fiel mir ein, dass ich mir nicht überlegt hatte, was ich sagen sollte. Die Musik war sehr laut. Also konnte ich zunächst gestikulierend so tun, als wäre es bei diesem Lärm unmöglich, etwas zu sagen. Aber es half nichts. Ich musste etwas sagen. Die laute Musik. Tanzlokal. Klar. Ich sagte: Willst du mit mir tanzen? Ich schrie es.
    Sie sah mich an, von oben nach unten und wieder nach oben, nur ihre Augäpfel bewegten sich, dann sagte sie: Nein.
    Seither weiß ich, dass die Seele keinen Sitz hat. Sie ist eine Flipperkugel. Sie schlägt an im Knie, klickt gegen die Hoden, stößt ans Zwerchfell, trifft das Herz, schlingert durch den Hals, prallt an das Hirn, fällt in ein Loch.
    Ich hatte, vom Eintritt abgesehen, noch gar nichts ausgegeben. Ich hatte genug Geld für ein Taxi.
    Jedenfalls, Helga war Jungfrau. Sie sagte, sie brauche noch etwas Zeit. Sie blickte dabei so traurig, als hinge die Entscheidung, mit mir ins Bett zu gehen, leider nicht von ihr, sondern von einer übergeordneten Macht ab. Das stimmte wahrscheinlich auch. Man hört oder liest ja oft, dass die Entscheidung, mit jemandem ins Bett zu gehen, nicht unbedingt vom eigenen Willen gesteuert ist. Mir war das jedenfalls recht. Ich hatte ja selbst keine Erfahrung. Ich hatte vor, in der Zeit, die Helga noch brauchte, eine Art Schnellkurs zu buchen, um nicht gleich beim ersten Mal bei meiner ersten Freundin völlig ahnungslos zu sein und womöglich zu versagen. Ich hielt mich bereit. Das führte zu gar nichts. Ich überlegte, in den Vorlesungen und Proseminaren die Mädchen anzusprechen, die mir gefielen. Aber ich wollte bloß eine erste Erfahrung, und keine zweite Helga. Ich plante, in ein Bordell zu gehen. Aber ich war zu feig. Ich hatte einen Freund, der sich von seiner Freundin trennte, um die ich ihn beneidet hatte. Listig tröstete ich sie. Sie weinte an meiner Schulter. Wir kamen uns rasch näher, aber nie in die Nähe des Bettes. Sie wollte erst ihre gescheiterte Beziehung verarbeiten. Ich bekomme heute noch Hautausschläge, wenn ich das nur höre: »Beziehung« und »verarbeiten«.
    Und dann passierte es. Ich sollte für die Studentenzeitung eine Reportage über »Die neue Jugendkultur« schreiben. Ich war zu feig, um zu recherchieren. Ich schrieb aus der Erinnerung über das Voom Voom. Diese Reportage wurde ein fulminanter Erfolg – bei der Sekretärin meines Professors im Institut für Publizistik. Sie sprach mich darauf an. Der Satz »Nur wenn ich ein Tier wäre, würde ich den Vorwurf meiner Artgenossen, ich sei zu menschlich, verstehen« habe sie tief berührt. Sie erzählte mir, dass sie vor zwei Wochen im Voom Voom gewesen und dort als »Oma« verspottet worden sei. Ich fand das ungerecht. Sie hatte nichts von einer Oma. Sie hatte etwas Mütterliches. Sie war um die Dreißig. In meiner Erinnerung wird sie es immer bleiben. Sie könnte heute meine Tochter sein. »Ist in den letzten Jahren nicht unausgesetzt von Befreiung die Rede gewesen, bis hin zur freien Liebe? Was immer befreit wurde, die Liebe ist es nicht!« Berührt habe sie das, sagte sie. Sie hieß Frau Hader. Barbara. Und sie war offenbar gern berührt. Es genügte ein entsprechender Kalauer, kombiniert mit einem Blick der Unschuld, die ich ja wirklich noch hatte, und ich lag in dieser Nacht bei ihr im Bett. Ich war ahnungslos. Natürlich wusste ich grundsätzlich, worum es ging. Aber sonst wusste ich nichts. Ich dachte, dass der Begriff »Liebesnacht« bedeutete, dass man die ganze Nacht liebte. Ich war fassungslos, wie schnell das Grundsätzliche vorbei war. Das konnte ich nicht akzeptieren, dieses Versagen: Die Nacht war noch so lang. Ich war jung, zugleich sehr spät dran. Ich hatte also die Kraft der Jugend und den Druck eines Stausees. Heute noch wundere ich mich darüber, wie es mir damals möglich war, nur mit psychischer Anstrengung immer wieder aufs Neue einen
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