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Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten

Titel: Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten
Autoren: Carlos Castaneda
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Ganzheit eures Selbst haben.« Don Juan machte eine kurze Pause. Don Genaro sah mich an und blinzelte.
    »Carlitos will wissen, was es heißt, die Herrschaft über die Ganzheit des Selbst zu haben«, sagte er, und alle lachten.
    Er hatte recht. Unter anderen Umständen hätte ich danach gefragt. Diese Situation jedoch war zu feierlich für Fragen. »Es bedeutet, daß der Krieger endlich die Kraft gefunden hat«, sagte Don Juan. »Niemand kann sagen, was der einzelne Krieger damit anfangen wird. Vielleicht werdet ihr beide friedlich und unbemerkt über das Antlitz der Erde wandeln, vielleicht werdet ihr euch als haßerfüllte Menschen erweisen, oder vielleicht berüchtigt sein, oder wer weiß. All dies hängt von der Makellosigkeit und der Freiheit eures Geistes ab. Das Wichtigste aber ist eure Aufgabe. Diese ist das Vermächtnis, das ein Lehrer und ein Wohltäter ihren Lehrlingen mitgeben. Ich bete darum, daß es euch beiden gelingen möge, eure Aufgaben zu einem Höhepunkt zu führen.«
    »Das Warten auf die Erfüllung ist ein ganz besonderes Warten«, sagte Don Genaro ganz plötzlich. »Und ich will euch die Geschichte einer Gruppe von Kriegern erzählen, die vor Zeiten in den Bergen lebten, irgendwo in dieser Richtung.« Er deutete nachlässig nach Osten, aber dann, nach kurzem Zögern, schien er es sich anders zu überlegen, stand auf und wies auf die fernen Berge im Norden.
    »Nein. Sie wohnten in dieser Richtung«, sagte er, sah mich an und lächelte mit gelehrsamer Miene. »Genau einhundertund-fünfunddreißig Kilometer von hier.«
    Don Genaro imitierte mich offenbar. Sein Mund und seine Stirn waren angespannt, die Hände drückte er fest gegen die Brust, als halte er irgendeinen imaginären Gegenstand, vielleicht ein Notizbuch. So verharrte er in einer höchst lächerlichen Pose. Ich sagte, ich hätte einmal einen deutschen Gelehrten getroffen, einen Sinologen, der genauso aussah. Der Gedanke, daß ich all die Zeit unbewußt die Grimassen eines deutschen Sinologen imitiert haben könnte, belustigte mich sehr. Ich lachte vor mich hin. Dies war ein Spaß, der nur mir zu gelten schien.
    Don Genaro setzte sich wieder und fuhr mit seiner Geschichte fort.
    »Immer wenn ein Mitglied dieser Gruppe von Kriegern im Verdacht stand, eine Handlung begangen zu haben, die gegen ihre Gesetze verstieß, lag die Entscheidung über sein Schicksal in den Händen aller. Der Schuldige mußte seine Gründe für seine Tat erklären. Seine Kameraden mußten ihm zuhören, und dann gingen sie entweder auseinander, weil seine Gründe sie überzeugt hatten, oder sie stellten sich mit ihren Waffen am Abhang eines flachen Berges auf - ganz ähnlich wie dieser Berg, auf dem wir hier sitzen -, bereit, sein Todesurteil zu vollstrecken, weil sie seine Gründe als unannehmbar erachteten. In diesem Fall mußte der verurteilte Krieger seinen alten Kameraden Lebewohl sagen, und seine Exekution begann.«
    Don Genaro sah mich und Pablito an, als warte er auf ein Zeichen von uns. Dann wandte er sich an Nestor. »Vielleicht kann der Zeuge uns sagen, was diese Geschichte mit den beiden hier zu tun hat?« sagte er zu Nestor. Nestor lächelte schüchtern und schien eine Weile in tiefes Nachdenken zu versinken.
    »Der Zeuge hat keine Ahnung«, sagte er und brach in ein nervöses Kichern aus.
    Don Genaro forderte uns alle auf, uns zu erheben und mit ihm zu kommen, um über die westliche Kante der Mesa hinabzublicken.
    Dort erstreckte sich ein leicht geneigter Hang bis ins Tal hinab, und daran schloß sich ein schmaler, flacher Landstreifen an und endete in einem Graben, der ein natürlicher Abfluß für das Regenwasser zu sein schien. »Genau dort, wo der Wassergraben ist, stand in den Bergen, von denen die Geschichte erzählt, eine Baumreihe«, sagte er. Jenseits erstreckte sich ein dichter Wald. »Nachdem der verurteilte Krieger sich von seinen Kameraden verabschiedet hatte, mußte er über den Hang hinunter zu den Bäumen gehen. Seine Kameraden brachten ihre Waffen in Anschlag und zielten auf ihn. Falls keiner von ihnen schoß oder falls der Krieger seine Verletzungen überlebte und den Waldrand erreichte, war er frei.«
    Wir gingen zurück zu der Stelle, wo wir gesessen hatten. »Und was nun, Zeuge?« fragte er Nestor. »Kannst du es sagen?« Nestor war ein Ausbund von Nervosität. Er nahm den Hut ab und kratzte sich am Kopf. Dann barg er sein Gesicht in den Händen.
    »Wie kann der arme Zeuge das wissen?« antwortete er schließlich heraufordernd und
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