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Diktator

Diktator

Titel: Diktator
Autoren: Stephen Baxter
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er hier am IAS ist, macht ihr damit weiter, stimmt’s? Aber ihr arbeitet nicht an entlegenen Bereichen der mathematischen Logik.« Sie warf einen Blick auf eine von Gödel eigenhändig hingekritzelte Bleistiftnotiz auf dem Vorsatzblatt von Husserls Werk. »Mit meinem Deutsch hapert’s noch ein bisschen … ›Die Unterscheidung zwischen physischer Zeit und dem inneren Zeitbewusstsein. ‹ Ist das richtig?« Als sie in den Büchern blätterte, breitete sich ein Geruch von Staub und abgestandenem Tabak aus – der Geruch von Wien. »Ah. Die Zeitmaschine von H. G. Wells. Dachte ich mir doch, dass ich das hier finden würde!«
    Er fühlte sich in die Enge und in die Defensive gedrängt, ein Gefühl, das er noch aus Wien kannte, wo ihn die »Anti-Relativitäts-Clubs« und andere antisemitische Gruppen aufs Korn genommen hatten. »Wie hast du das alles rausgefunden? Hast mit der halben Fakultät geschlafen, wie?«
    Sie lächelte ihn an, nackt und vollkommen gelassen. »Und ich weiß auch, woran du noch gearbeitet hast. An etwas, worüber nicht mal Gödel Bescheid weiß. Es hat mit der Relativität zu tun und mit diesem schmalzigen Zeug von innerer Zeit und Bewusstsein … Es geht über bloße Theorie hinaus. Und du hast nicht allein daran gearbeitet. Ich rede von Rory O’Malley.«
    »Was weißt du von Rory?«
    »Ich hab so das Gefühl, dass ich mehr über deinen irischen Freund weiß als du.« Sie strich ihm mit einem
trägen Finger über den nackten Arm; er erschauerte unwillkürlich und knöpfte sich das Hemd zu. »Komm schon, Ben. Raus mit der Sprache. Es geht das Gerücht …«
    »Ja?«
    »Dass du mit deinem irischen Freund eine Zeitmaschine gebaut hast.«
    Er zögerte. »Es hat nicht das Geringste mit Wells’ Hirngespinst zu tun. Und wir haben nur mit Ideen – Konzepten – rumgespielt, das ist alles. Wir haben einige Berechnungen durchgeführt …«
    »Das ist alles? Bist du sicher?«
    »Natürlich bin ich sicher! Wir haben überhaupt nichts gemacht . Wir sind sogar zu dem Schluss gekommen, dass es gar nicht nötig ist, weil …«
    »Rory O’Malley ist nicht gerade die Verschwiegenheit in Person. So viel weißt du doch bestimmt über ihn. Er hat was anderes gesagt .«
    Als Ben klar wurde, was ihre Worte bedeuteten, krampfte sich sein Magen zusammen. War das möglich? Aber wie, ohne sein Wissen? O Rory, was hast du getan?
    Julia sah seine Angst und lachte ihn aus. »Ich finde, du solltest Rory anrufen. Wir haben einiges zu bereden.«

III
    »Ich habe Physik studiert«, sagte Rory langsam. »Ich war ein intelligentes Kind. Die Relativität hat mich fasziniert. Es gab bestimmt nicht viele andere fünfzehnjährige Schüler in Dublin, die ein Exemplar von Einsteins 1905 publizierten Abhandlungen besaßen – und noch weniger, die sie in der Sprache lesen konnten, in der sie ursprünglich abgefasst worden waren, in Deutsch.
    Aber ich fühlte mich auch zur Geschichte hingezogen. Warum betont man bei einem Mann wie Einstein immer so, dass er Jude ist? Und überhaupt, warum lag die christliche Kirche – ich war irisch-katholisch – immer in einem solch schrecklichen Konflikt mit den Juden? Also begann ich, Geschichte zu studieren. Religion. Philosophie …« Er sprach unsicher und zupfte dabei an seinen Fingern.
    Rory war ein dunkler Typ, noch dunkler als Ben. Er scherzte, das irische Blut seiner Familie sei von dunkelhäutigen Spaniern verunreinigt worden, die aus den Wracks der Armada an Land gespült worden seien. Der kleine Fleck Narbengewebe an seinem Hals war ein Überbleibsel der Nationalistenkugel, die ihn in Spanien um ein Haar getötet hätte. Rory war ein
stämmiger, bulliger Mann, ein Ire, der sich in Amerika durchgeschlagen und in Spanien dem Tod ins Auge geblickt hatte. Dennoch wirkte er eingeschüchtert, als er nun vor Julia saß. Sie war in ihrem üblichen Stil gekleidet – ein beinahe männliches Kostüm mit Jackett und Hose, dazu eine hemdartige Bluse und eine lose gebundene Krawatte –, und Zigarettenrauch umrahmte ihr makelloses Gesicht.
    Die drei saßen in Rorys Wohnung im baumbestandenen Herzen von Princeton. Das Wohnzimmer war klein, aber hell, und die langen Schiebefenster waren geöffnet, um die grüne Luft eines amerikanischen Frühlingstags hereinzulassen. Sie hockten auf verschlissenen, schmutzigen Möbelstücken inmitten unordentlicher Stapel von Büchern über Physik und Geschichte, über die Wurzeln des Christentums und die philosophischen Implikationen von Einsteins
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